Sowjetunion: Weltmacht des Mangels

Die langjährige Osteuropa-Expertin des KURIER, Jana Patsch, erinnert sich an den Alltag im Versuchslabor des Sozialismus.

Am 25. Dezember 1991 hielt Michail Gorbatschow seine letzte TV-Ansprache als Präsident der Sowjetunion. Er erklärte seinen Rücktritt und übertrug dem russischen Präsidenten Boris Jelzin die Kontrolle über die Atomwaffen. Über dem Kreml wurde die Sowjetflagge durch die russische ersetzt. Gorbatschows Versuch, die taumelnde UdSSR durch Glasnost und Perestroika (Transparenz und Umbau) zu reformieren, war gescheitert. Eine Sowjet-Republik nach der anderen hatte ihre Unabhängigkeit erklärt.

Die langjährige KURIER-Redakteurin Jana Patsch hat die Sowjetunion seit den 1960er-Jahren Dutzende Male bereist. 20 Jahre nach deren Untergang schildert sie in einer KURIER-Serie ihre persönlichen Eindrücke vom wandelnden Lebensgefühl und Lebensalltag der Sowjet-Bürger durch die Jahrzehnte.

„Mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten und niemals anders!“ – „Sowjetunion, unser leuchtendes Vorbild!“ Mit solchen Parolen in einem Satellitenstaat der mächtigen UdSSR aufgewachsen und ohne Chance, jemals in ein westliches Land reisen zu dürfen, bot sich mir im Mai 1965 erstmals die Gelegenheit, das realsozialistische „Paradies“ selbst zu erleben.

Mit einer Gruppe tschechischer und slowakischer Studenten ging die Reise von Bratislava mit dem Zug nach Moskau. Das Umsteigen auf die Breitspur an der sowjetischen Grenze erfolgte nach einer peniblen Gepäckkontrolle vor dem Grenzort Cop. Einem ukrainischen Beamten schienen Walnüsse verdächtig. Er knackte sie auf.

In der Ukraine stiegen die Passagiere nicht einfach zu, sie zogen in den Zug ein – mit Proviant, Hauspatschen, Schachbrett und Pyjama. Der diente auch als Garderobe für Spaziergänge am Perron.

Endlich bot sich eine Möglichkeit, die nicht ganz freiwillig erworbenen Russisch- Kenntnisse auszuprobieren. Auf ihr Leben angesprochen, spulten die Mitreisenden nur Erfolgsstatistiken herunter: „Wir haben weltweit die größten Kohlereserven, die höchste Stahlproduktion pro Kopf, den Primat im All, und in Kürze werden wir die Wirtschaftsleistung der USA übertrumpfen.“ Sie waren gedrillt, gegenüber Fremden wachsam zu sein. Die politisch etwas mildere Chruschtschow-Ära war vorbei, KP-Chef Leonid Breschnew hatte die Zügel wieder fest angezogen.

Fotografieren verboten

Aufschlussreicher war der Blick aus dem fahrenden Zug: Alle Brücken und Bahnhöfe entlang der Strecke waren von Militärposten bewacht, das Fotografieren der strategischen Objekte war strengstens verboten. Auf Baustellen arbeiteten viele Frauen, die Steine klopften und Schienen legten. „Bei uns sind die Frauen gleichberechtigt“, kommentierten das die Mitreisenden. Für den weiblichen Einsatz im Straßen- und Hochbau gab es noch eine Erklärung: den Frauen-Überhang nach 1945. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion 15 Millionen Zivilisten und 9 Millionen Soldaten verloren.

Nach 40 Stunden Fahrt rollte der Zug im „Weißrussischen Bahnhof“ in Moskau ein. Unsere Delegation wurde von einer Gruppe Komsomolzen (KP-Jugendorganisation) in Empfang genommen. Jeder Gast bekam einen Zweig Flieder, in Zeitungspapier gewickelt. Zeitungen waren sehr nützlich. Weniger als Lektüre, denn alle Gazetten berichteten nur von KP-Veranstaltungen. Die klein geschnittenen Propagandablätter ersetzten aber das Toiletten-Papier, das Mangelware war.

Unsere Reisegruppe wurde in einem Hotelkomplex untergebracht, der Gästen aus sozialistischen Bruderländern vorbehalten war. Eine Fraternisierung mit den Einheimischen war nicht erwünscht. Die internationale Freundschaft musste bei einem gemeinsamen Abendessen vertieft werden. Dabei wurden ein paar Bücher ausgetauscht und politische Reden gehalten. Nach dem sehr frühen Abschluss achtete der Komsomolzen-Führer darauf, dass kein Schützling mit den Fremden weiterzieht.

Schlangen vor den Lokalen

Sowjetunion: Weltmacht des Mangels

Es wäre auch schwer gewesen, ein nettes Plätzchen zum Weiterfeiern zu finden, denn kein Moskauer durfte ein Hotel für Ausländer betreten. Mitte der 60er-Jahre kamen auf acht Millionen Moskauer nur zwei Dutzend Restaurants, vor denen immer eine Schlange wartete.

In der Silhouette der Stadt waren bis auf die Kathedralen im Kreml keine Zwiebeltürme zu sehen. Die Kirchen waren abgerissen oder als Büros und Lagerhäuser zweckentfremdet. Damals waren aber noch Reste der Altstadt erhalten, die später dem Bau des Mega-Hotels Rossia (mehr als 3000 Betten) weichen mussten.

Der Besuch im Einkaufspalast der Sowjetunion GUM enttäuschte. Unter den mit Stuck übersäten Arkaden waren unzählige Verkaufspulte platziert, das Warenangebot von Unterwäsche, Rasierapparaten, Schuhen, Schallplatten, Büchern wiederholte sich aber alle paar Meter.

Für einen Spritzer Parfum

Die Moskauer liebten Automaten, etwa für Limonaden. Getrunken wurde aus einem Gemeinschaftsglas. Ein anderes Modell spendete für einige Kopeken etwas Parfum.

Trotz mangelnder Vielfalt an Textilien waren die Moskauer auffallend gut gekleidet. Nähen und Stricken gehörte zur Allgemeinbildung.

Unser Versuch, auf eigene Faust mit der Vorortebahn nach Zagorsk (einst das wichtigste Kloster der russischen Orthodoxie) zu fahren, scheiterte. Eine Schalterfrau bekam davon Wind, alle Kassen wurden geschlossen. Denn Ausländer, selbst Diplomaten, durften sich nur 40 km vom Stadtzentrum entfernen.

Die Reise ging weiter mit dem Flugzeug nach Usbekistan, wo uns die „Errungenschaften des Sozialismus“ vorgeführt wurden: Traktorfabriken, Textilkombinate und Seidenspinnereien.

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