Sex-Skandale erschüttern England

Mit Benzin übergossen und mit dem Anzünden bedroht, mit dem Lauf einer Waffe am Kopf eingeschüchtert. Entführt, misshandelt, vergewaltigt. Was rund 1400 Kindern und Jugendlichen in der englischen Stadt Rotherham widerfahren ist, ist kaum zu fassen.

Der Endbericht der ehemaligen schottischen Regierungsberaterin Alexis Jay über sexuelle Gewalttaten an Minderjährigen in Rotherham – das jüngste Opfer soll elf jahre alt gewesen sein – ist schockierend.

1400 Opfer

Jay arbeitete seit 2010 an der Aufarbeitung des organisierten sexuellen Missbrauchs von Kindern. Damals waren die Machenschaften von fünf Sexualstraftätern bekannt geworden. Das Ausmaß, der Missbrauch von 1400 Kindern und Jugendlichen in den Jahren 1997 bis 2013, wurde erst kürzlich, durch die Veröffentlichung des Berichtes bekannt.

"Kollektives Versagen"

Jay brachte weitere erschütternde Details zutage: Polizei, Jugendschutzbehörden und Politik müssen seit Jahren von den Vorfällen gewusst haben. Unternommen wurde nichts. Die Forscherin wirft den Behörden „kollektives Versagen“ vor.

Der Fall Rotherham ist aber nur die Spitze eines Eisberges. Nach dem Tod des Entertainers und BBC-Moderators Jimmy Savile im Jahr 2011 ist bekannt geworden, dass er mehr als 500 Personen – Kinder, Frauen, Behinderte und Tote – sexuell missbraucht haben soll. Seitdem brechen immer mehr alte Mauern des Schweigens nieder. Längst erschüttert der Sex-Skandal auch die Politik in England.

Politiker im Zwielicht

Durch die britischen Medien geistert mittlerweile das Schlagwort des „Pädophilenrings in Westminster“. Hochrangige Abgeordnete des britischen Parlaments sollen Heimkinder und andere Minderjährige jahrzehntelang missbraucht haben. Die meisten Akten sind auf mysteriöse Weise verschwunden. Der Ruf der traditionsreichen Abgeordnetenkammern ist schwer angeschlagen. Laut Umfragen glauben drei Viertel aller Briten, dass sich Politiker Kinder für ihre sexuellen Gelüste zugespielt haben.
Sir Peter Morrison, einst Sekretär der Premierministerin Margaret Thatchers, wurde bereits in den 1980er-Jahren verdächtigt, „etwas mit kleinen Buben zu haben“ – er war beim Besuch von Kinderheimen beobachtet worden. 1990 wurde er von der Polizei festgenommen, als er mit einem Jugendlichen Sex in einer Toilette hatte. Er kam mit einer Verwarnung davon, das belastende Material ist nicht mehr aufzufinden.

Wie Morrisson ist auch Cyril Smith, der schwergewichtige Abgeordnete der Liberaldemokraten, mittlerweile verstorben. Auch er soll in Kinderheimen reihenweise Buben missbraucht haben. Der Fall wird – trotz des Todes von Smith – derzeit untersucht.

Beweise verschwunden

Im Jahr 1993 hätte den Machenschaften der pädokriminellen Politiker ein Ende gesetzt werden können. Denn der Tory-Abgeordnete Geoffrey Dickens hatte ein eigenes umfangreiches Dossier zum Thema Kindesmissbrauch angelegt. Sein Sohn erinnerte sich vor wenigen Wochen in einem BBC-Interview an die Zeit zurück, als sein Vater (1995 verstorben), an der Fertigstellung dieses Dossiers gearbeitet hat. Barry Dickens: „Wir haben im Familienkreis oft darüber gesprochen. Mein Vater sagte: ,Das wird das Leben der mächtigen und berühmten Kinderschänder in die Luft sprengen.’“ Der Politiker händigte den Schriftsatz seinem Parteikollegen und damaligen Innenminister Lord Brittan aus, der es an die Behörden weiterleiten wollte.

Geschehen ist nichts. Brittan kann sich heute nicht mehr erinnern, was mit Dickens’ Konvolut, das Pädophile ans Messer liefern hätte sollen, passiert ist. Eines steht fest: Das Dossier, das angeblich 1993 an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden ist, ist heute bei Scotland Yard und der Polizei nicht mehr auffindbar.

Auch Dokumente über einen angeblichen Top-Politiker, der im Dickens-Bericht erwähnt worden sein soll, so der Daily Telegraph, seien verschwunden. Die Polizei soll bei dem Mann Sexvideos mit Kindern gefunden haben. Er wurde nicht verhaftet. Weder eine Anzeige, noch die Sexvideos seien bei den Behörden auffindbar. Das britische Innenministerium erklärte erst kürzlich, dass im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch 114 Akten verschollen wären.

Vertuschung

Für Aufsehen sorgte vor kurzem auch der ehemalige Minister aus der Ära Thatcher, Lord Tebbit in einer BBC-Show: „Ich denke, dass damals die meisten Leute versucht haben, das Establishment, das System zu schützen.“ Er führte zudem aus, sich durchaus vorstellen zu können, dass Erkenntnisse über pädophile Machenschaften von Politikern damals bewusst vertuscht wurden.

40 Politiker involviert?

Insgesamt, so mutmaßen britische Medien, sollen bis zu vierzig Politiker in den Pädophilen-Ring involviert sein. Und Vorwürfe hätte man schon vor Jahrzehnten überprüfen können. Eine Aussage des ehemaligen Tory-Fraktionschefs Tim Fortescue aus dem Jahr 1995, rückte heuer erneut in den medialen Fokus. Es seien immer wieder Mitglieder seiner Fraktion mit Problemen zu ihm gekommen. „Es konnte um Schulden gehen, oder um einen Skandal bei dem kleine Buben eine Rolle spielten.“ Er führte in einem so genannten Schwarzbuch Aufzeichnungen darüber. Das Notizbuch wurde mittlerweile vernichtet.

Rücktritte

Politik und Behörden arbeiten nun fieberhaft daran, den Skandal aufzuarbeiten, Und gerade in der prekären Situation passierte Premierminister David Cameron der nächste Fauxpas: Er beauftragte just die 80-jährige ehemalige Richterin Elizabeth Butler-Sloss im Juli 2014 mit der Untersuchung. Sie war selbst lange Zeit Abgeordnete der Torys und somit Teil jenes Establishments, das sie untersuchen sollte. Nur eine Woche nach ihrer Ernennung, trat sie auf Grund des öffentlichen Drucks zurück.

Konsequenzen zog auch ein Politiker aus Rotherham. Der Stadtrat Roger Stone legte nach der Veröffentlichung des Missbrauchsberichtes im August sein Amt zurück. Er übernehme die Verantwortung für die „historische Katastrophe“, wie die BBC berichtet.

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