Eine Welt ohne WWW
Untergangs-Prophezeiungen haben Konjunktur. Die dazugehörigen Buchtitel klingen wie Faustschläge: „Blackout“ heißt das Buch von Marc Elsberg (erschienen bei Blanvalet, 800 Seiten, 10,30 €) über einen europaweiten Stromausfall, bei dem alle Versuche, wieder ans Netz zu gehen, sabotiert werden. Nach einigen Tagen bricht das Chaos aus. Krankenhäuser, Lebensmittelversorgung und selbst die Versorgung mit Treibstoff funktionieren nicht mehr.
Thomas Grüter geht in seinem Buch „Offline!“ einen provokanten Schritt weiter. Der Kognitionswissenschaftler behauptet darin, dass die Informationsgesellschaft noch in diesem Jahrhundert kollabieren werde. Im schlimmsten Fall bereits in 20 Jahren: „Europa, Ostasien und Nordamerika wird es am härtesten treffen.“
Fakten
Seine Thesen beruhen auf harten Fakten: Die Vernetzung dominiert unseren Alltag. Doch das virtuelle Universum, in dem Distanzen scheinbar mühelos überbrückt werden, wird mit einem riesigen Energie-Aufwand betrieben und von einem Millionenheer von Datenbank-Programmierern, Netzwerk-Administratoren, Wartungsdiensten und Leitungsverlegern am Laufen gehalten.
Eine sensible Infrastruktur, die nicht unabhängig funktioniert. Ein Ausfall – etwa von Strom oder Satelliten – könnte kapitale Folgen haben. Vergleichbar mit einem großen Stromausfall. Grüter sagt dazu: „Die gängige Vorstellung vom Langzeitgedächtnis des Internet stimmt nicht. Denn in Wahrheit ist nichts fragiler, unbeständiger und angreifbarer als das Internet. Die Lebensdauer seiner wichtigsten Teile beträgt kaum drei Jahre“. Ein gigantischer Warenstrom muss fließen, um die Infrastruktur des virtuellen Universums zu bewahren. Dazu kommt der Strombedarf. Bis 2020 werden Handys und Computer rund zehn Prozent der gesamten Stromerzeugung verbrauchen. Es drohen Kreuz-Abhängigkeiten: In zwei Jahrzehnten könnte die Strom-, Gas- und Wasserversorgung vom Internet abhängig sein. Und umgekehrt – das Netz von der Versorgung.
Zweifel
Maximilian Schubert vom Verband der Internetwirtschaft teilt Grüters Sorgen nicht in vollem Umfang. Probleme sieht er unter Umständen bei der Abhängigkeit von speziellen Rohstoffen oder Seltenen Erden und bei Speichermedien. „In der Anfangsphase des Internet hat keiner daran gedacht, ob das Diskettenformat in zehn Jahren noch lesbar ist.“ Einen totalen Kollaps befürchtet er nicht, das Internet sei ursprünglich unter anderem vom US-Militär konzipiert worden um einen atomaren Erstschlag stand zu halten. Auch wenn einzelne Internetknoten entfernt werden, funktioniert dsa Internet dennoch weiter. „Wenn die Bibliothek alle Bücher digitalisiert hat, würde – im Worst Case – eher die Bibliothek abbrennen als die verschiedenen Speicherorte.“
... junge Paare, die auf Facebook sind, den Jahrestag ihrer Beziehung an dem Tag feiern, an dem sie ihren Facebook-Status von Single auf In einer Beziehung geändert haben.
... in ca. zehn Jahren Smartphones die EC-Karten als Zahlungsmittel unter Städtern abgelöst haben werden.
... mittlerweile so gut wie jedes Mobiltelefon eine Kamera hat und auf diesem Weg mehr oder weniger wichtige, meist peinliche Momente ihren Weg ins Internet finden. In Kombination mit der Zunahme der Überwachungskameras im öffentlichen Raum wird jede menschliche Regung öffentlich.
... es ein Fehler wäre, zu glauben, im Internet gehe nichts verloren. Im Gegenteil: Aufzeichnungen müssen ständig erneuert werden, sonst verblassen oder zerfallen sie. Während eine Höhlenmalerei eine durchschnittliche Lebensdauer von 1000 Jahren hat, sind es bei Festplatten nur bis zu zehn Jahre. Schwarz-Weiß-Fotos haben eine Lebensdauer von 50 bis 100 Jahren, ein USB-Stick hält im Schnitt zehn bis 30 Jahre.
... länger haltbare Computerbauteile durchaus gebaut werden könnten. Bisher sei aber kein Markt dafür vorhanden.
Viel kann passieren: Fest steht, dass sich unser derzeitiges Wirtschaftssystem nur weltweit rechnet. Würde Apple seine Produkte nur für Europa produzieren, wären sie für den Normalsterblichen unbezahlbar. Das größte Problem ist aber vermutlich der Zerfall des gespeicherten Wissens. In Zukunft werden wir unsere Rechner zwar noch aufdrehen, aber die Betriebssysteme ohne Internet nicht mehr benutzen können. Für Buchautor Thomas Grüter eine gefährliche Drohung. „Unser Wissen ist in der Hightech gespeichert. Allein auf dem Feld der Hirnforschung erscheinen 200.000 wissenschaftliche Publikationen jährlich. Das ist auf Papier nicht mehr darstellbar.“
Die westliche Welt vollführt einen Drahtseilakt. Die öffentlichen Haushalte sind durch den Erhalt der normalen Infrastruktur, Brücken, Straßen, Wasserleitungen unter Druck. „Jetzt setzen wir auf dieses bröckelige Mauerwerk, wie kleine Türmchen, die IT-Infrastruktur drauf.“ Der Klimawandel werde zusätzliche finanzielle Mittel binden.
Eine der größten Möglichkeiten und gleichzeitig eine Herausforderung sieht Schubert im Internet der Dinge. Wenn Kühlschrank, Raumthermostat und Toaster miteinander kommunizieren, muss vielleicht auch über Datenschutz neu überdacht werden. „Wollen wir einen Kern von sensiblen Daten, der extrem gut geschützt ist, oder sämtliche personenbezogenen Daten relativ gut schützen.“
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