Wo leben wir hier eigentlich, und wenn ja: wann? So könnte man den Titel eines bekannten, populär-philosophischen Buches abwandeln, um sich der Frage anzunähern, mit der sich führende Erdwissenschafterinnen und Erdwissenschafter die vergangenen zwei Jahrzehnte beschäftigt haben. Nämlich: In welchem Erdzeitalter leben wir?
Offiziell befindet sich die Erde seit knapp 12.000 Jahren, also seit dem Ende der letzten Eiszeit, in der Epoche des Holozän. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher argumentieren jedoch, dass wir mittlerweile im Anthropozän, also dem Zeitalter des Menschen, leben - und fordern, das auch offiziell anzuerkennen.
Globale Veränderung der Gesteinsschichten?
Für diese geowissenschaftliche Definition wäre eine global messbare, grundlegende Veränderung in den Gesteinsschichten nötig. Eine entsprechende Arbeitsgruppe hatte eine solche im vorigen Jahr festgestellt, dennoch wurde die Frage nach dem Anthropozän nun vom zuständigen Gremium abschlägig beschieden.
Die zuständige Unterkommission der "International Union of Geological Sciences" (IUGS), stimmte am Dienstag mit eindeutiger Mehrheit gegen den Vorschlag, offiziell das Anthropozän auszurufen, wie die New York Times zuerst berichtete.
Von den 22 Mitgliedern der Arbeitsgruppe stimmten zwölf mit nein, vier mit ja, zwei enthielten sich und drei nahmen an der Abstimmung nicht teil.
Spuren der Menschheit nicht in Frage gestellt
Das bedeutet freilich nicht, dass der Einfluss der Menschheit auf den Planeten geringer als angenommen wäre, im Gegenteil. Als "technische Angelegenheit für Geologen" bezeichnete etwa Erle C. Ellis von der Universität Maryland, selbst ein Skeptiker des geologischen Anthropozäns, die Abstimmung.
"Das hat nichts mit dem Beweis zu tun, dass Menschen den Planeten verändern", sagte Ellis zur NY Times. "Die Beweise werden immer zahlreicher." Von Nano- und Mikroplastik in der Umwelt über langlebige Beton-Hinterlassenschaften, die Erderhitzung und das Artensterben bis hin zu radioaktiven Spuren: die Menschheit verändert ihre Umwelt ohne jeden Zweifel.
Die Frage für die IUGS war jedoch: Lässt sich das geologisch nachweisen - und wenn ja, ab wann genau?
1750, 1950 - oder doch gar nicht?
Angestoßen hatte die Debatte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2002 - und auch gleich ein Startdatum für das Anthropozän vorgeschlagen: Mitte des 18. Jahrhunderts sollte das Zeitalter des Menschen beginnen, als die CO2-Konzentration in der Atmosphäre infolge der Industrialisierung spürbar zu steigen begann.
Im Jahr 2009 wurde dann die "Anthropocene Working Group" eingesetzt, um die Frage formal zu klären - und beantwortete sie mit ja. Ihr Vorschlag für das Startdatum des Anthropozäns: das Jahr 1950. Ihr Kronzeuge: der Crawford-See in Kanada.
In den Sedimenten des Gewässers im Bundesstaat Ontario zeige sich der Einfluss des Menschen am deutlichsten, so die Forscherinnen und Forscher. Nicht nur Flugasche aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe lagere sich in dem See beständig ab, sondern etwa ab dem Jahr 1950 auch Plutonium als Überrest von Atombombentests. Letzteres wurde von der Arbeitsgruppe als offizieller Marker vorgeschlagen.
Die IUGS ist jedoch anderer Meinung, wobei sich nicht sagen lässt, aus welchem Grund die einzelnen Mitglieder gegen den Vorschlag stimmten. Ein Streitpunkt war aber jedenfalls die Festlegung des Jahres 1950 als formaler Beginn des Anthropozäns.
Debatte um Definition - und um Startpunkt
"Der Einfluss des Menschen reicht viel tiefer in die geologische Zeit zurück. Wenn wir das ignorieren, ignorieren wir die wahren Auswirkungen, die der Mensch auf unseren Planeten hat", sagte Mike Walker, Kommissionsmitglied und Professor an der Aberystwyth-Universität in Wales, der NY Times.
Die Wahl des Jahres 1950 als Startpunkt "schränkt die Bedeutung des Anthropozäns ein", sagte auch Jan A. Piotrowski, ebenfalls Kommissionsmitglied und Geologe an der Universität Aarhus in Dänemark. "Was geschah zur Zeit des Beginns der Landwirtschaft? Was ist mit der industriellen Revolution? Was ist mit der Besiedlung Amerikas und Australiens?"
Einige Forscherinnen und Forscher, darunter Walker, sprechen sich aufgrund der rapiden Umweltveränderung durch den Menschen dafür aus, den menschlichen Einfluss zu einem "geologischen Ereignis" zu erklären - ähnlich einem gewaltigen Meteoriteneinschlag oder einem Vulkanausbruch mit weitreichenden Folgen.
Fürsprecher sind enttäuscht
Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe, die die Entscheidung vorbereitet hatte, der Geologe Colin Waters von der Universität Leicester in Großbritannien, zeigte sich gegenüber dem Magazin Spektrum der Wissenschaft jedenfalls enttäuscht über das Abstimmungsergebnis - und kündigte an, dass die Gruppe das Ergebnis wegen Verfahrensfehlern möglicherweise anfechten werde.
Waters kündigte zudem an, die Gruppe werde die wissenschaftliche Arbeit an der neuen Epoche fortsetzen.
Der Klimaforscher Michael E. Mann sieht die ganze Angelegenheit demgegenüber deutlich gelassener. "Ich glaube, das ist eher ein Sturm im Wasserglas. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter werden weiterhin den Begriff 'Anthropozän' verwenden, unabhängig davon, was dieses Gremium beschlossen hat", schrieb er auf X (früher Twitter).
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