Denn dessen erstes Leben kostete Abertausende ihr eigenes: Eigentlich hieß der als „korrekt“ beschriebene Manager Sigfried Uiberreither und war ab Mai 1938 sieben Jahre lang Gauleiter der Steiermark. Damit war er als oberster NSDAP-Funktionär verantwortlich unter anderem für Deportationen, Hinrichtungen und die Durchführung der Todesmärsche knapp vor Kriegsende.
Zur Rechenschaft als NS-Verbrecher gezogen wurde Uiberreither nie. Er tauchte 1947 in Deutschland unter, in Sindelfingen in Baden-Württemberg und wurde Friedrich Schönharting.
Ein historisches Puzzle
Wie konnte ein NS-Gauleiter einfach von der Bildfläche verschwinden? Das ist ein historisches Puzzle, das der emeritierte Grazer Uni-Professor Karner in einer Biografie zusammenzusetzen versucht. „Sein zweites Leben in Deutschland liegt im Schatten“, überlegt Karner. „Deshalb ist die Beantwortung vieler Fragen über ihn schwer.“
Um den Fall greifbar zu machen, muss man beim ersten Leben jenes Mannes ansetzen, der als 30-Jähriger NS-Gauleiter sowie Landeshauptmann wurde und damit einen der wichtigsten Posten des Regimes übernahm: 1908 in Salzburg geboren, Doktor der Rechtswissenschaften. Seit 1939 verheiratet mit Käte, er galt als eitel und arrogant, hatte einen autokratischen Führungsstil. „Bis zuletzt war er dem ‚Führer‘ treu ergeben und vom ‚Endsieg‘ überzeugt“, beschreibt Karner.
Nur wenige Stunden, bevor die Rote Armee am 9. Mai 1945 in Graz einmarschierte, floh Uiberreither aus der Stadt. Wenige Wochen später wurde er von den Briten verhaftet. Bei den Nürnberger Prozessen war er Zeuge der Verteidigung unter anderem für Hermann Göring, sollte wegen der NS-Verbrechen nach Jugoslawien abgeschoben und vor ein Militärgericht gestellt werden.
Während der Kärntner Gauleiter Friedrich Rainer in Jugoslawien zum Tode verurteilt und Uiberreithers Frau Käte von einem Grazer Volksgericht zu mehreren Monaten Kerker verurteilt worden ist, wurde er selbst nie vor Gericht gestellt: Er entkam seiner Auslieferung durch Flucht aus dem US-Camp in Dachau im Mai 1947.
US-Geheimdienst wusste Bescheid
Bis heute ranken sich Gerüchte darum, wie ihm das gelang. Verbrieft ist, dass der US-Geheimdienst Bescheid wusste und es Hilfe der „Organisation Gehlen“ gab, des Vorläufers des deutschen Bundesnachrichtendienstes – weshalb, ist Spekulation. Etwa in Richtung Alfred Wegeners, Uiberreithers Schwiegervater: Unterlagen jenes Forschers, der die Theorie der Kontinentalverschiebung entwickelte, wären wertvolle Informationen im Abtausch gewesen.
„Doch so war es nicht“, betont Karner. Vieles fehlt bis heute, etwa die gefälschten Dokumente aus den späten 1940er-Jahren oder Akten der Geheimdienste. Nur eine Handvoll Menschen dürfte von Flucht und Namensänderung gewusst haben – sie alle hielten dicht.
Wechsel zu Leben 2. In Sindelfingen fand der Österreicher einen Posten in einer Kühlgerätefirma. Der Eigentümer dankte ihm wohl so für die Hilfe, die Uiberreither seinem Bruder in einem Alliierten-Camp zukommen ließ. Man war befreundet mit dem Oberbürgermeister, besuchte Gottesdienste – ein angepasstes Leben, beinahe bieder.
Erst Ende der 1980er-Jahre bekam das Konstrukt Risse, weil ein pensionierter Lehrer Gerüchten nachging, dass in dem Werk ein Ex-Nazi-Bonze gearbeitet habe. In den späten 2000er-Jahren schrieben Grazer Historiker einen Bericht über Uiberreithers Leben in Sindelfingen und trieben Zeitzeugen auf.
Doch da war der ehemalige Gauleiter schon lange tot: Er starb 1984.
Stefan Karner: „Gauleiter Uiberreither. Zwei Leben“, Leykam, Universitätsverlag
512 Seiten, 39 Euro
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