20 Jahre Tsunami: "Es war plötzlich sehr ruhig. Der Tod kommt still"
20 Jahre wie im Flug vergangen; die Erinnerung so frisch, als wäre es erst gestern gewesen; all die Schreckensbilder, die Schreie, der Gestank – und auch die unheimliche Stille sind bis zum Ende der Tage ins Gehirn eingebrannt:
Eduard Issel war damals mittendrin in der Hölle von Khao Lak, jenem thailändischen Urlauber-Ressort, wo die meisten der 86 österreichischen Todesopfer im Tsunami umgekommen sind.
Wir sind nur kleine Sandkörner im Meer. Das Bleibende für mich ist, die Gnade, dass wir leben durften
Er hat das Grauen gesehen – und ist ihm entkommen.
Heute mag Issel ein älterer Herr sein, aber sein Verstand ist klar und sein Herz übervoll. Erst recht seit dem 26. Dezember 2004, der sein Leben (auch positiv) verändern sollte: "Wir sind nur kleine Sandkörner im Meer", sagt der 75-Jährige heute und wiederholt damit exakt jenen Wortlaut, den er auch schon vor gut 20 Jahren gegenüber dem Autor artikuliert hat. "Das Bleibende für mich ist die Gnade, dass wir leben durften. Und die Erkenntnis über unsere Bedeutung im Universum: Schau, wir sind gar nichts!"
Früher sei er als Immobilien-Manager im Hamsterrad des ständigen Strebens nach wirtschaftlichem Erfolg gefangen gewesen, seither aber weiß er: "Das ist alles nicht so wichtig!" Ist er vielleicht sogar dankbar für diese ungeheure Erfahrung? "Absolut!"
Auftritt in der ZIB2
Rückblende, 28. Dezember 2004. Die erste AUA-Maschine aus dem Katastrophengebiet in Thailand landet in Wien, mit an Bord sind Issel und seine Frau Gerda. Mit Badeshorts und Flipflops steht er den Reportern Rede und Antwort, "denn ich hatte ja nichts, nicht einen Kratzer. Ich habe mich fast geniert bei so vielen Schwerverletzten im Flieger", erzählt der Hietzinger.
Nach einem kurzen Stopp zu Hause geht es dann per Taxi ins ORF-Zentrum auf den Küniglberg in die ZIB2, wo Issel als erster heimischer Augenzeuge einem Millionenpublikum in sehr plastischer und drastischer Weise die Katastrophe schildert. Zu einer Zeit, als Handykameras bestenfalls unscharfe Bilder machten und Social Media noch in den Kinderschuhen steckte.
Noch heute erinnert sich so mancher an seine Worte, wie er zunächst das zurückweichende Meer, das die Touristen neugierig machte und letztlich in den Tod lockte, als Vorbote eines Tsunamis erkannte (weil er zufällig davor im Fernsehen eine entsprechende Dokumentation gesehen hatte).
Erdbeben
Am 26. Dezember 2004 um genau 00.58 UTC (7.58 Uhr Ortszeit in West-Indonesien und Thailand) nimmt die Katastrophe ihren Ausgang. Das Zentrum der gewaltigen unterseeischen Erdstöße der Stärke 9,1 – das drittstärkste jemals zu diesem Zeitpunkt gemessene Beben – liegt vor der Westküste von Nord-Sumatra im Indischen Ozean. Hier schiebt sich die indisch-australische Platte unter die eurasische
Tsunamis
Die Folge des Bebens sind verheerende Tsunamis an den Küsten des Indischen Ozeans. Der Begriff "Tsunami" (japanisch für "Hafenwelle") ist zu diesem Zeitpunkt der breiten Öffentlichkeit noch nicht bekannt. Die Wellen rollen mit mehreren 100 km/h. Zwischen dem Beben und den ersten Tsunamiwellen vergehen zwischen 20 Minuten und mehr als sechs Stunden. 14 Länder werden von bis zu 20 Meter hohen Wellen getroffen. Diese dringen teils mehrere Kilometer ins Landesinnere vor.
Tote und Verletzte
Insgesamt sterben etwa 230.000 Menschen, darunter 2.000 Touristen. Die Tsunamis sind damit die tödlichsten aller Zeiten. Mehr als 110.000 Menschen werden verletzt, mehr als 1,7 Millionen Küstenbewohner rund um den Indischen Ozean werden obdachlos. Viele Kommunikationsverbindungen sind mehrere Tage lang unterbrochen. Funkamateure helfen aus und geben auch Nachrichten Überlebender an die Angehörigen weiter
Österreicher
86 Österreicher kommen ums Leben (85 in Thailand). Viele werden als namenlose Opfer gefunden und erst nach akribischer Ermittlungsarbeit identifiziert.
Österreich schickt das DVI-Team (Disaster Victim Identification) nach Thailand. Eine schwierige Arbeit in der Hitze. Die Leichen sind in schlechtem Zustand. Doch das Team will den Toten ihre Namen zurückgeben. Es gelingt, alle zu identifizieren. Bei anderen Nationen werden Vermisste nicht gefunden.
Warnsysteme
Frühwarnsysteme gibt es 2004 im Indischen Ozean noch nicht und auch keine entsprechende Kommunikationsinfrastruktur. Das pazifische Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii sagt bereits nach Minuten nach dem Beben Flutwellen voraus, doch Ansprechpartner in den betroffenen Ländern fehlen. Kurz nach der Katastrophe wird schließlich ein Frühwarnsystem installiert.
Und wie dann plötzlich in der Ferne "ein weißer Strich über den gesamten Horizont" auftaucht. Die Todeswelle rast auf die Küste zu.
Allerletzte Sekunde
Issel wird zum Kassandra-Rufer, versucht verzweifelt, die Menschen vom Strand wegzutreiben. "Nö, mal kucken", entgegnet ihm eine deutsche Urlauberin. "Das war ihr letzter Satz!", sagt Issel.
Selbst seine Frau, die noch im Bungalow zusammenpacken möchte, muss er an der Hand nehmen, um mit ihr zur höchsten Stelle der Hotelanlage zu fliehen. Rettung in allerletzter Sekunde. Die mehr als zehn Meter hohe Welle bricht draußen am Riff, spritzt laut Issel 40 Meter in die Höhe, ehe sie dann als Schaumwelle gegen das Ufer donnert und alles mitreißt. "Es war dann plötzlich sehr ruhig. Der Tod kommt still."
Und da erinnert Issel an die Anzeichen der Katastrophe: "Die Natur hat Stunden davor geschwiegen. Es war an jenem Morgen gespenstisch still." Das passe auch zu den vielen Geschichten, die damals kursierten – etwa jene mit den Elefanten, die mitsamt den Touristen durchgegangen und auf den Berg rauf seien. Und daher habe er sich die immer wieder auftauchende Frage, warum ausgerechnet er überlebt habe, leicht beantworten können: "Weil ich das Sensorium hatte", sagt Issel. Es gäbe zwischen Himmel und Erde eben doch mehr als das, was der Mensch wahrnehmen könne.
Überlebt haben damals auch andere. Diese Geschichten erzählt Issel lieber als jene von Tod und Schrecken: Da sei ein älterer Mann gewesen, der noch vor der zweiten Welle seine vom Meer verschlungene Frau suchen wollte – und sich verzweifelt ins Wasser voller Müll und Unrat geworfen habe. "Da ist plötzlich sein eigener, roter Schalenkoffer dahergeschwommen. Da konnte er sich festhalten und später seine Frau aus einer Palmenkrone retten." Oder jene zwei Personen, die sich in eine schwimmende Tiefkühltruhe stürzten: "Sie sind halb erfroren, aber haben überlebt."
Postkarte an sich selbst
Ganz anders erging es vielen seiner Freunde aus Österreich, die anderswo in Khao Lak von der Welle vollkommen überrascht wurden und keine Chance hatten. Besonders berührt hat ihn das Schicksal einer Freundin: "Sie hatte sich selbst eine Postkarte nach Hause geschickt und geschrieben: 'Grüße aus einem anderen Leben'. Da ist es mir kalt über den Rücken gelaufen."
Und was bleibt noch 20 Jahre später? Die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft der Thailänder, die uns ein Vorbild seien. "Die haben selbst alles verloren und waren keine privilegierten Menschen. Von ihnen war viel zu wenig die Rede."
Während ihm andere Urlauber gierig Wasser und Klopapier, das er für die Verletzten gesichert hatte, entreißen wollten, hätten sich die Thais liebevoll um alle gekümmert.
Einer habe seiner Frau, nach einem Nervenzusammenbruch am Ende, aus einem völlig überfüllten Spital Valium besorgt; und der Fahrer, der sie per Jeep nach Phuket zum Flughafen brachte, wollte partout nichts annehmen. "Ich musste ihm das Geld mit Gewalt reinstopfen", erzählt Issel.
Zurück in Khao Lak
Irgendwann – das wusste Issel immer – müsse er an den Schicksalsort Khao Lak zurückkehren. 15 Jahre sollte es schließlich dauern. "Wir waren vorher immer wieder anderswo in Thailand, weil wir so den wunderbaren Menschen etwas zurückgeben wollten. Aber es war kein Luxus mehr, sondern einfache Quartiere – wo es aber zehnmal besser schmeckte", erzählt Issel schmunzelnd.
500 Häuser für die Opfer des Tsunami
Als der Tsunami 2004 auf die Insel Sri Lanka traf, zerstörte er 70 Prozent der Ost- und Südküste. 35.000 Menschen starben, Hunderttausende wurden obdachlos. Der KURIER startete damals eine Hilfsaktion – es sollte eine der größten jemals von einer österreichischen Tageszeitung ins Leben gerufenen internationalen Initiativen werden. Elf Millionen Euro Spenden konnten im Rahmen von "KURIER Aid Austria" gesammelt werden.
Davon wurden 500 Häuser in drei Dörfern in Sri Lanka gebaut – in solider Bauweise, mit Strom- und Wasseranschluss. Nach nur einem Jahr konnten Familien, die ihre Häuser in den Küstengebieten verloren hatten, die Neubauten beziehen.
Angst vor dem Meer
Amith de Silva war damals hautnah dabei. Der Sri Lanker unterstützte "KURIER Aid Austria" vor Ort beim Wiederaufbau, organisierte die Besuche der österreichischen Helferinnen und Helfer und hat bis heute Kontakt zu den Familien in den KURIER-Dörfern.
"Die Menschen haben nichts mehr gehabt. Ihre Häuser wurden komplett zerstört. Und sie hatten Angst, am Meer zu wohnen", erzählt er am Telefon. Nicht nur deshalb wurden die Häuser weiter im Landesinneren gebaut.
Heute, 20 Jahre später, sei die Angst überwunden. Sri Lanka habe sich weitestgehend von der Katastrophe erholt. Die Küstenabschnitte seien wieder bebaut worden, der Tourismus trotz des Terroranschlags 2019 und der Corona-Pandemie wieder angelaufen.
Und auch die Häuser der KURIER-Dörfer sind nach wie vor bewohnt. "Es leben immer noch dieselben Familien in den Häusern wie vor 20 Jahren", sagt Amith de Silva. Teilweise habe schon die nächste Generation übernommen. Auch das Community Center inklusive Krankenstation, Jugendzentrum und Spielplatz stehe noch. "Die Menschen sind bis heute dankbar."
Und dann kam das Jahr 2019: Besuch des Tsunami-Museums, Eintrag ins Buch der Überlebenden, ein Foto vom 30 Meter langen Polizeischiff, das die Wassermassen zwei Kilometer landeinwärts gespült hatte. Anstrengend und berührend sei es gewesen, vor allem für seine (mittlerweile verstorbene) Frau. Wiewohl die Küste nach dem Wiederaufbau nun ganz anders aussähe: "Es war nicht wiederzuerkennen. Wo unser Hotel war, hätte ich fast nicht mehr gefunden."
Und am Schluss sagt Eduard Issel noch: "Ganz ehrlich gesagt, will man dann auch nicht so tief graben. Aber es war ein wichtiger Abschluss für uns."
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