Staatsfeind Nr. 1 will die Freiheit
Seine sonore Stimme vermittelt Gelassenheit, seine ruhige Ausstrahlung und höfliche Ausdrucksweise lassen an einen netten, älteren Herren denken, der mit seinem Leben im Reinen ist. Doch der Mann, der dem Autor gestern gegenübersaß, war einst der gefürchtetste und meist gesuchte Verbrecher Österreichs.
Juan Carlos Chmelir, von dem hier die Rede ist, war Staatsfeind Nr. 1. Nach 36 Jahren in Haft sieht sich der Raubmörder mittlerweile als Opfer von Justiz-Willkür. Der 64-Jährige will seinen Lebensabend in Freiheit genießen. Noch sitzt der "längstdienende" Häftling Österreichs in Graz-Karlau ein.
Seine Verbrecherkarriere begann früh. Bereits 1969 war von ihm wegen Raubs erstmals im KURIER zu lesen – damals noch unter seinem ursprünglichen Namen Juan Carlos Bresofsky.
Tödlicher Schuss
Neun Jahre später überfällt er mit Komplizen eine Postfiliale in Wien-Favoriten. Chmelir schießt auf den Beamten hinter der Kassa. Dieser stirbt wenige Tage danach an den Folgen der Schussverletzung. Chmelir und Kumpanen werden festgenommen. Der Todesschütze wird 1979 verurteilt. "Lebenslang für den gefährlichen Bresofsky" titelt der KURIER.
Mit einem spektakulären Ausbruch aus der Justizanstalt Garsten (OÖ) auf das benachbarte Kirchendach sorgt Chmelir mit einem Haftgenossen 1983 erneut für Schlagzeilen. Unter den Augen zahlreicher Schaulustiger hält das Duo 33 Stunden in schwindelerregender Höhe durch, ehe es wieder durch ein Dachfenster in das Gefängnisareal schlupft.
Die Justiz geht von Fluchtversuch aus, Chmelir behauptet heute noch, dass er bloß gegen die unzumutbaren Haftbedingungen protestieren wollte. Die Aktion bringt ihm weitere zwölf Monate Gefängnis ein.
Ausbrecher
"Massenausbruch aus dem Gefängnis Karlau", lautete eine KURIER-Schlagzeile im August 1989. Im Mittelpunkt einmal mehr Chmelir, der mit zwei Schwerverbrechern aus der Haftanstalt getürmt ist. Die Ausbrecher gehen getrennte Wege; Chmelir stoppt ein Auto und nimmt die Lenkerin als Geisel. Er verletzt sie mit einem Messer und vergewaltigt sein Opfer sechs Mal. Nach zwei Tagen lässt er die 37-jährige Frau eines Oberregierungsrates der steirischen Landesregierung frei. Seine Flucht endet nach zwölf Tagen in Klagenfurt. Das sorgt für weitere 18 Jahre Haft.
Chmelir sieht die Vergewaltigungen heute noch als "zärtliche Liebkosungen" im gegenseitigen Einvernehmen. Seine Geisel widerspricht dem vehement (siehe Interview).
Gutachter am Wort
Gestern fand in der Justizanstalt Graz-Karlau unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Anhörung wegen bedingter Entlassung des Rekord-Häftlings statt. Gerd Obetzhofer, Präsident des steirischen Straflandesgerichts: "Es werden weitere Sachverständigen-Gutachten eingeholt." Erst dann könne über eine Entlassung gesprochen werden. Zeitrahmen? Noch nicht absehbar.
In einem Telefonat teilte Chmelir kürzlich mit, dass er hoffe, zu seinem 65. Geburtstag im Juni freizukommen. "Lebenslang sind in Österreich maximal 20 Jahre, bei mir sind es schon 36." Er befürchtet, die Justiz wolle sich an ihm rächen, weil er einst Missstände im Strafvollzug angeprangert habe.
Sollte er freikommen, will Juan Carlos Chmelir zu seiner Lebensgefährtin nach Wien ziehen und ein "Leben ohne Gaunereien" führen. Und seine Opfer und deren Angehörige um Verzeihung bitten.
Auswanderer, Heimkind und Gewaltverbrecher
Kindheit: Juan Carlos Bresofsky (Chmelir) wanderte 1962 im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie von Uruguay nach Österreich ein. Hier wurde er bald in Kinderheime gesteckt. Er spricht von "traumatischen Erlebnissen" bis hin zu Vergewaltigungen.
Kriminelle Laufbahn: Nach den Heimen stand Chmelir auf der Straße, hielt sich mit Diebstählen über Wasser. 1969 erster Raub, 1978 Raubmord und zwei weitere Banküberfälle, 1983 Fluchtversuch aus Garsten, 1989 Flucht aus Graz-Karlau samt Geiselnahme.
Nach seiner spektakulären Flucht aus der Haftanstalt Graz-Karlau, im August 1989, stoppte Juan Carlos Chmelir einen Geländewagen. Am Steuer die damals 37-jährige Elisabeth Salmer (Name von der Redaktion geändert, Anm.), die von Chmelir zwei Tage lang als Geisel festgehalten wurde. Der KURIER erreichte das Opfer am Telefon. Sie schildert nach beinahe 25 Jahren ihr Martyrium.
KURIER: Frau Salmer, Ihr Geiselnehmer Juan Carlos Chmelir will aus der Haft entlassen werden. Fürchten Sie sich davor?
Elisabeth Salmer: Nein, ich habe keine Angst. Ich war ja ein reines Zufallsopfer. Der wollte einfach wegkommen und da bin ich zufälligerweise mit dem Auto dahergekommen. Er hatte es ja nicht auf mich persönlich abgesehen.
In einer Art Memoiren schreibt Chmelir, er habe Sie nicht mit dem Messer verletzt, sondern Sie hätten sich die Wunde bei einem Sturz zugezogen.
Er hat mich mit dem Messer verletzt. Das war alles kein Spaziergang für mich. Ich war in einer Ausnahmesituation.
Sie waren 48 Stunden in seiner Gewalt?
Zwei Tage. Es ist ja schon so lange her und ich habe es heil überstanden; und habe eine große Familie mit Kindern und Enkeln.
Er erklärt, es habe während der Geiselnahme keine Vergewaltigungen gegeben, alles wäre freiwillig passiert.
Nein, um Gottes Willen, das ist ein Wahnsinn. Natürlich habe ich da nicht freiwillig mitgemacht.
Der Geiselnehmer ein wegen Mordes verurteilter Ausbrecher, mit einem Messer bewaffnet ... Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Man hat Angst um sein Leben. Ich hatte ja während der Autofahrt die ganze Zeit das Messer am Bauch. Ich hätte nicht einmal einen Unfall provozieren können. Und er war immer in Alarmbereitschaft. Wenn ein Auto in der Nähe war, hat er mich festgehalten, damit ich nicht aus dem Auto springe. Sogar in dem Lokal, in dem wir waren, hatte er das Messer griffbereit. Er hätte jederzeit mir oder einer anderen Person etwas antun können.
Wie haben Sie das damals durchgestanden?
Sie müssen sich vorstellen, wie das ist, wenn man fünf Kinder zu Hause hat: Da ist nur das Überleben wichtig. Ich habe ja immer wieder versucht, mit ihm zu reden, damit er ein schlechtes Gewissen bekommt und mich laufen lässt.
Wie würden Sie reagieren, wenn Chmelir Ihnen zufällig über den Weg läuft?
Das kann ich jetzt nicht sagen. Aber ich wünsche es mir nicht, ihm wieder zu begegnen.
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