Missbrauch im SOS-Kinderdorf: Warum Gewalt gegen Kinder ein Tabu-Thema ist
Manche Geschichten schmerzen – gerade weil sie aus Orten kommen, die eigentlich Schutz bieten sollten. Das SOS-Kinderdorf war für Generationen ein Zufluchtsort. Die Fälle von Gewalt und sexuellen Übergriffen haben an diesem Bild gekratzt.
Heute stellt sich die Organisation ihrer Vergangenheit: Sie lässt aufarbeiten, wo Kinder Gewalt erfahren haben – und welche Strukturen das ermöglicht haben. Die Leitung des SOS-Kinderdorfs hat dazu eine unabhängige Reformkommission unter Leitung der pensionierten Höchstrichterin Irmgard Griss eingesetzt. Auch Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation die Möwe, ist Mitglied.
Was hat die Gewalt an Kindern ermöglicht?
Wölfl sieht in der Aufarbeitung einen wichtigen Schritt: „Es geht darum, die Mechanismen zu verstehen, die Gewalt möglich gemacht haben. Nur so können Organisationen daraus lernen.“
Dass Kindern keine Gewalt angetan werden darf, ist noch nicht lange selbstverständlich. Bis 1974 durften Lehrer in Österreich Kinder züchtigen, drei Jahre später fiel das elterliche Prügelrecht. Erst 1989 erklärte das Gesetz unmissverständlich: Gewalt gegen Kinder ist verboten. Seit einem Jahr gilt in Österreich ein verpflichtendes Kinderschutzprojekt für alle Organisationen, die mit Kindern arbeiten.
Wie man Übergriffe schnell stoppt
Doch laut Wölfl braucht es mehr als Richtlinien: „Die Frage ist, wie wir Strukturen schaffen, die Gewalt und Übergriffe sofort oder möglichst rasch stoppen. Wir müssen ermöglichen, dass Klarheit und Transparenz in die Alltagspraxis einziehen.“ Heißt: Wenn der Verdacht besteht, dass Kinder missbraucht oder misshandelt werden, muss das ausgesprochen werden können. Hier gebe es noch oft Tabus: „Es gibt eine Scheu, heikle Themen anzusprechen“, sagt Wölfl. „Wir müssen lernen, eine konstruktive und kritische Feedbackkultur zu leben.“
Es braucht Mechanismen, die es ermöglichen, Gewalt anzusprechen – egal, von wem sie ausgeht: von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Vorgesetzten oder auch von Kindern und Jugendlichen.
Was Menschen hemmt, Missstände zu melden
Gerade in Einrichtungen, die viel Gutes tun, fällt es Menschen schwer, Missstände öffentlich zu machen. „Viele verbinden mit dem SOS-Kinderdorf positive Erfahrungen – sie sagen, ohne diese Einrichtungen wären sie verloren gewesen. Das macht es schwer, über Schattenseiten zu sprechen.“
Doch genau diese Balance zwischen Anerkennung und Aufarbeitung ist entscheidend.
„Differenzierung ist wichtig“, sagt Wölfl. „Es geht darum, die gesamte Geschichte zu sehen – Licht und Dunkel zugleich.“ Sie kritisiert in diesem Zusammenhang die Medien, die ihrer Ansicht nach immer wieder skandalisieren, was sicher nicht im Sinne derer ist, die den Mut haben Missstände zu benennen.
Alle Akten geöffnet
Die Reformkommission will jedenfalls alle Fälle aufarbeiten: „Die Organisation unter der neuen SOS-Geschäftsführerin Annemarie Schlack hat alle Akten geöffnet – auch jene, die für die Organisation sehr unangenehm sind“, sagt Wölfl.
Am Ende wird die Kommission einen öffentlichen Bericht vorlegen.
Auf die Fragen, ob man ihrer Meinung nach dem SOS-Kinderdorf weiterhin spenden soll, antwortet Wölfl: Viele Einrichtungen, die Hilfe für Kinder und Familien in schwierigen Situationen anbieten und das alleine aus Förderungen der öffentlichen Hand nicht leisten können, brauchen Unterstützung. Natürlich ist das eine persönliche Entscheidung, welcher Organisation ich spende und es braucht das Vertrauen und die nachweisbare Kontrolle, dass die Spende richtig ankommt.
Übrigens: Betroffene, die im SOS-Kinderdorf Gewalt erfahren haben, können sich unter www.reformkommission.at melden.
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