Missbrauch im SOS-Kinderdorf: Was heißt das für die Organisation?
Zusammenfassung
- Der Gründer der SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, wird des jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs an mindestens acht Kindern beschuldigt, was die Organisation nun öffentlich machte.
- Die Enthüllungen erfolgten im Zuge aktueller Ermittlungen zu Missbrauchs- und Misshandlungsfällen an mehreren Standorten, wobei auch mögliche Mitwisser und Mittäter untersucht werden.
- SOS-Kinderdorf kündigt umfassende Aufarbeitung, Reformen und einen extern begleiteten Organisationsentwicklungsprozess an, um Vertrauen zurückzugewinnen und Kinder besser zu schützen.
Auf seinem Sterbebett soll Hermann Gmeiner seinen Nachfolger Helmut Kutin gebeten haben: „Pass mir besonders auf die Kinder auf.“
Das war 1986. Doch nun, fast 40 Jahre nach dem Tod des einst als „Pionier der Menschlichkeit“ titulierten und 96-fach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagenen Gründers der SOS-Kinderdörfer bekommt der Satz einen bitteren Nachgeschmack: Gmeiner, der mit Ikonen wie Mutter Teresa und dem Dalai Lama zusammen traf und fast 150 nationale wie internationale Auszeichnungen für seine Verdienste um Kindeswohl erhielt, steht im Verdacht, sich an Kindern sexuell vergangen zu haben.
Und zwar in einem Zeitraum von mehr als 30 Jahren an vier Standorten in Österreich zwischen den 1950er und 1980er Jahren. Das gab die Organisation am Donnerstag bekannt. „Niemand steht über dem Prinzip der Verantwortung. Auch nicht Gründerfiguren“, versichert Annemarie Schlack, seit 2024 Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf Österreich.
Warum erst jetzt?
Das Strafrecht ist allerdings außen vor, jedenfalls in Bezug auf Gmeiner. Doch was ist mit mutmaßlichen Mitwissern? Oder gar Mittätern? Darüber gibt sich die Staatsanwaltschaft Innsbruck bedeckt und verweist auf „anhängige Verfahren“ wegen des Vorwurfs der Kindesmisshandlung. Abgesehen davon werde „umfassend gegen unbekannte Täter ermittelt“.
Doch warum jetzt diese Offenlegung des Falles Gmeiner, 39 Jahre nach seinem Tod? Das hat mit den jüngsten Missbrauchswürfen zu tun: Mitte September wurden durch den Falter massive Vorwürfe gegen das Kinderdorf in Moosburg (Kärnten) publik, wo Kinder und Jugendliche gequält und vernachlässigt worden sein sollen. Kurz darauf wurden auch ähnliche Verdachtsfälle an anderen Standorten bekannt. Die Staatsanwaltschaften Klagenfurt, Innsbruck und Salzburg ermitteln.
Acht Betroffene erhielten Entschädigungen
Diese Fälle haben neben dem Strafrecht auch weitere Komponenten: Unter dem Vorsitz von Irmgard Griss, der ehemaligen Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, formierte sich eine „Reformkommission“, Ex-Banker Willibald Cernko legte vor Kurzem sein Aufsichtsratsmandat zurück. In der Geschäftsführung von SOS-Kinderdorf wurde begonnen, Dokumente zu sichten – so stieß man auf dokumentierte Vorfälle um Gmeiner: Die wurden nämlich bereits in Opferschutzverfahren behandelt – 2013 bis 2023.
Zumindest acht Betroffene – Männer, die früher als Buben in SOS-Kinderdörfern lebten und Missbrauch durch Gmeiner meldeten – sind bekannt. Sie wurden bereits jeweils mit bis zu 25.000 Euro entschädigt, teilte die Organisation mit. „Aufarbeitung gilt für alle, unabhängig von Rolle, Funktion, Verdiensten, Zeitraum, Einfluss oder Symbolkraft“, versichert Geschäftsführerin Schlack, die das System SOS-Kinderdorf neu aufstellen will.
Vertrauen leidet
Und diese Neuaufstellung wird auch bitternötig sein. Zuallererst, um weitere Missbrauchsfälle zu verhindern und die Kinder zu schützen. Aber auch der Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit muss gemindert werden. Viele soziale Einrichtungen sind auf Spenden angewiesen. Bleiben diese aus, leiden wieder diejenigen, die Schutz am meisten Schutz: Kinder aus prekären Familienverhältnissen oder jene, die ihre Eltern verloren haben. Derzeit werden 1.800 Kinder und Jugendliche vom SOS-Kinderdorf betreut.
„Unsere Vorgangsweise ist ein Bruch mit einer idealisierten Geschichte , aber auch die Voraussetzung für nachhaltige Veränderung“, sagt darum Schlack. Gestartet wird ein von externen Expertinnen und Experten begleiteter „Organisationsentwicklungsprozess“. Ein besonderer Fokus liege auf der Beteiligung der Mitarbeitenden, deren Erfahrungen und Ideen für die Zukunft. Zusätzlich soll ein neues Leitbild entwickelt werden. Ein Sonderbeauftragter soll die Organisation intern durchleuchten.
Es bleibt zu hoffen, dass dann „Pass mir besonders auf die Kinder auf“ tatsächlich gilt und nicht wieder konterkariert wird.
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