Radikalisierung: Was die Jugend-Studie wirklich aussagt

Symbolbild
Eine seriöse Studie warnt vor der Radikalisierung in Wiener Jugendzentren. Daraus wurde schnell ein Pauschalverdacht gegen muslimische Jugendliche in Österreich.

Vergangenen Sonntag veröffentlichte die Stadt Wien eine besorgniserregende Studie. Die Soziologen Kenan Güngör und Caroline Nik Nafs hatten rund 400 Jugendliche in Wiener Jugendzentren auf ihre Weltanschauung abgeklopft. Das Ergebnis: Nur rund 42 Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen können als gemäßigt und aufgeschlossen bezeichnet werden. 27 Prozent seien radikalisierungsgefährdet, sie fallen durch ein weltfremdes und gewaltbejahendes Weltbild auf. Hinzu kommen antisemitische und homophobe Haltungen. Weitere 31 Prozent gehören zu den „Ambivalenten“, den leicht- bis mittelgefährdeten in der Mitte.

Die Studie löste in vielen Medien regelrechte eine Alarmstimmung aus. Zurecht, die Ergebnisse sind bestürzend. Aber wie das so ist, mutierte die Radikalisierungsgefährdung von muslimischen Jugendzentrumsbesuchern in Medien und Politik rasch zur dschihadistischen Unterwanderung der muslimischen Jugend als Ganzes, ein Pauschalverdacht, der aus der Studie gar nicht hervorgehen kann. Drei Gründe, warum das so ist.

1. Jugendzentren haben eine spezielle Klientel

Jugendzentren sind keine Orte, wo man einen repräsentativen Durchschnitt der jungen muslimischen Bevölkerung in Wien erwarten kann. Also, wer geht dort überhaupt hin? Die Radikalisierungsstudie gibt hierzu einen relativ genauen Überblick: „Die Wiener Jugendeinrichtungen ein Treffpunkt für sozioökonomisch marginalisierte Jugendliche“, heißt es da unter anderem. Sie würden ein „relativ niedriges Bildungsniveau“ aufweisen und nur wenige besuchen eine höhere Schule.

Jugendzentren erfüllen generell auch eine Treffpunkt-Funktion für Jugendliche, die keinen anderen Ort haben, sich zu treffen und aufzuhalten. „Stammbesucher haben oft kein eigenes Zimmer zu Hause“, sagt Christa Wildfellner, Sprecherin des Vereins Wiener Jugendzentren. Cafés und Bars fallen aus, denn Geld ist bei diesen Jugendlichen oft ein noch größerer Faktor, als bei finanziell besser gestellten Altersgenossen. In Jugendzentren gibt es keinen Konsumzwang. „Das ist ein großer Vorteil“, sagt Wildfellner. Das macht die Stammklientel aber auch nicht unbedingt repräsentativ für alle muslimischen Jugendlichen.

2. In Jugendzentren hängen mehr Burschen als Mädchen ab

Jugendzentren sind tendenziell eine männliche Angelegenheit. Einige Zentren haben als Reaktion darauf Mädchenprojekte oder Nachmittage eingeführt, an denen nur Mädchen in die Einrichtungen dürfen. Üblicherweise sind aber Burschen in der Überzahl. Es ist daher nicht verwunderlich, dass von den per Zufall ausgewählten Befragten in der Studie 70 Prozent männlich waren. Das ist, einmal mehr, repräsentativ für Jugendzentren, aber nicht für muslimische Jugendliche im Allgemeinen.

3. Jugendliche sind G‘schichtldrucker

Für die Studie wurden Jugendlich im Alter von 14 bis 17 Jahren befragt. Was machen junge Menschen in diesem Alter gerne? Sie reden Quatsch. „Sie sind oft in einer Lebensphase, in der sie provozieren wollen und mit extremen Aussagen austesten wollen, was dann passiert“, sagt Christa Wildfellner. Es gilt natürlich nicht für alle. Aber es ist durchaus zu erwarten, dass pubertäre Jugendliche ein bisschen übertreiben, um zu imponieren oder eine gute Geschichte zu erzählen. Durch Nachfragen tun sich dann oftmals Widersprüche auf: Der große Dschihadist weiß dann doch um einiges weniger über seine Religion Bescheid, als er behauptet.

Das solle nicht verharmlosen, sagt Wildfellner. Aber die Studienautoren sind auf dieses Phänomen sogar explizit eingegangen: „Neben den absoluten Aussagen, die für sich allein genommen schockieren, stehen Offenheit, Unwissenheit und Interesse, Gerechtigkeitsstreben, Unsicherheiten, Selbstkritik, Flexibilität und vor allem Widersprüchlichkeit. Dies sollte nicht nur in Hinblick auf die Typologie der Abwertung, sondern auch bei der Rezeption des gesamten Berichts immer im Hinterkopf behalten werden.“

"Keine Rückschlüsse ziehen"

Die Studie sagt also weder etwas über Jugendliche in Wien, noch über muslimische Jugendliche in der Hauptstadt etwas aus. „Man kann daraus keine Rückschlüsse auf die muslimische Jugend ziehen, wie das viele Journalisten gemacht haben“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger. „Es wäre unseriös, weil diese Jugendlichen bildungsferner und sozial schlechter gestellt sind als der Schnitt.“

Die Studie beschreibt vielmehr die Verhältnisse von marginalisierten, muslimischen Jugendlichen in Wiener Jugendzentren. Nicht mehr und nicht weniger. Die Autoren selbst behaupten nichts anderes. Natürlich kann es sein, dass auch in der breiteren muslimischen Jugend eine ähnliche Radikalisierungstendenz besteht – aber ebenso gut nicht. Nur eine weitere Studie mit repräsentativer Stichprobe aus der Gesamtjugend könne belastbare Einschätzungen zur aktuellen Situation bringen, sagt Schmidinger.

Alles paletti, Problem gelöst?

Ebenfalls: nein. Denn das alles ändert natürlich nichts daran, dass die Ergebnisse der Studie besorgniserregend sind und dringender Handlungsbedarf entsteht. Vor allem wenn man sich vor Augen führt, das alleine der Verein Wiener Jugendzentren, der größte derartige Verein in Wien, 9500 Jugendliche pro Jahr in irgendeiner Form betreut. Hinzu kommen einige Einrichtungen, die nicht Mitglied des Vereins sind. Die wahre Zahl muss also jenseits der 10.000 liegen. Aufgrund der aktuellen Studie kann man davon ausgehen, dass ein signifikanter Teil davon Gefahr läuft, in die Radikalisierung abzudriften.

Das ist ein Riesenproblem. Doch die Lösung beginnt mit der richtigen Benennung der betroffenen Bevölkerungsgruppe. Muslimische Jugendliche pauschal unter Dschihadistenverdacht zu stellen, ist wohl kontraproduktiv.

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