Lech: "Das Dorf ist auf sich selbst zurückgeworfen"

Lech: "Das Dorf ist auf sich selbst zurückgeworfen"
Leben am Arlberg in Zeiten von Corona: Jetzt stehen die Gäste nicht mehr im Mittelpunkt.

Email aus... In unserer neuen Reihe berichten ab sofort Menschen von ihrem neuen Alltag in der Corona-Krise. Den Auftakt macht Hans-Peter Martin aus Lech 

Die Großeltern in Österreichs nunmehrigem Nobelskiort erinnern sich an Zeiten, als Rekordbuchungen und Spitzenpreise noch nicht alles beherrschten. Die zentrale Frage lautete früher: Wie kommen wir in unseren Familien ohne Hunger durch den Winter? Lawinen verschütteten monatelang den Weg über die Pässe.

Jetzt ist das weltberühmte Dorf wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Alle Gäste mussten bis Montag abreisen, ein Viertel der Wintereinnahmen und damit oft des Jahresumsatzes sind verloren. Die meisten Saisonmitarbeiterverträge waren an die Dauer des Skiliftbetriebes gebunden, nun bestimmt Arbeitslosigkeit in den Heimatorten den Alltag statt üppige Trinkgelder am Arlberg. 450.000 Euro Nettogewinn entgehen allein einem erfolgreichen Hotelier. Auch wenn sich die örtlichen Banken bemühen, Kreditrückzahlungen zu stunden, steht zumindest ein führender Betrieb mit dem Rücken zur Wand. So manche Pension ist am Ende.

Gleichzeitig herrscht Kaiserwetter. Wie bitter. Doch die Erfahrungen mit jahrhundertelanger Armut sind nun ein Schatz, den die 1.600 Einwohner heben können, wenn sie diese zuletzt verdrängten Entbehrungen ins kollektive Bewusstsein der Gegenwart hochladen.

„Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack einer Katastrophe nehmen“, zitiert der kraftvolle „Fux“-Wirt Peter Strolz den Schweizer Schriftsteller Max Frisch. „Jetzt müssen wir zusammenstehen“, sagt die Allrounderin Vicki Walch, deren Herzlichkeit so viele in ihren Bann zieht. Lech ist aber gleichzeitig ein Ort, in dem das Bonmot grassiert, dass „jeder jedem sogar das Zahnweh neidig ist“.

Wie auf der Titanic

In jüngerer Vergangenheit war das aber ein Mal ganz anders: 2005, als ein unerwartetes Hochwasser wütete, die spontane Nachbarschaftshilfe aber alle überraschte.

„Jetzt kann man allerdings keine Schaufel in die Hand nehmen“, gibt der Bankangestellte Wilhelm Meier zu bedenken. Doch Kollegen erleben es schon: Auf sich zurückgeworfen, wird im Familienkreis wieder mehr miteinander geredet. Kümmerer lassen von sich hören. Nicht der Gast bestimmt alles, sondern das neue Erleben überwunden geglaubter Verletzlichkeit. Und deren Bewältigung. Zug um Zug griffen Maßnahmen, als sich Lech bemühte, sich zu schützen wie nunmehr Österreich versucht, sich abzugrenzen.

Anders als in den jäh abgeriegelten Wintersportorten St. Anton und Ischl wurde die Abreise der Wintersportler ohne Aufsehen abgewickelt. Im Spitzenhotel „Almhof“ war intern schon die vorzeitige Schließung beschlossen worden, ehe sie behördlich angeordnet wurde. Dennoch durfte noch eine Hochzeit in kleinem Rahmen gefeiert werden, wenngleich begleitet vom Gefühl des Upper Deck auf der Titanic. „And the band played on“, könnte man denken.

Doch dieses nicht überhastete, aber konsequente Vorgehen könnte den Grundstein legen für neues Vertrauen und neue Buchungen im nächsten Winter. Das bisher überzeugende Krisenmanagement von Kanzler Sebastian Kurz ist dabei enorm hilfreich. Als Kurz-Kritiker habe ich nicht damit gerechnet. Dies gilt umso mehr für das Leben in Lech in Zeiten von Corona.

Hans-Peter Martin lebt am Arlberg. Er ist Journalist, ehemaliger Politiker („Liste Martin“) und Buchautor. Seine „Globalisierungsfalle“ war 1996 ein Weltbestseller, im 2018 erschienenen Buch „Game over“ sieht er die Zukunft düster.

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