Die Tankstelle ist auch ein zwangloser Ort, an dem alle zusammenkommen. Man ist willkommen in jeder Stimmung und Kleidung. Man kann in seiner Arbeitshose kommen. Oder auch, wenn man keine Arbeit hat.
Wenn Andrea Nagy, die Lebensgefährtin von Tschuchnigg, nicht gerade drinnen zapft, rennt sie raus und lässt das Benzin sprudeln. „99 Prozent der Kunden bediene ich selbst, viele kommen deswegen“, sagt die gebürtige Ungarin. In St. Stefan ist die Tankstelle nicht bloß eine Quelle für Benzin, auch für Geschichten und Erinnerungen. Eine blonde Mittdreißigerin in einem weißen Hyundai erzählt durch ihr Autofenster über Tschuchniggs Tankstation: „Da waren Parties, bist du wahnsinnig. Die Jackie-Cola-Parties, wie ich 18 war, werd‘ ich mein Leben nicht vergessen.“ Inzwischen hat Frau Nagy den Hyundai vollgetankt.
Nicht nur im Treibstoffhandel ist Tschuchnigg ein geschickter Geschäftsmann. Er hat den Nah&Frisch-Laden neben seiner Tankstelle verpachtet, züchtet Pferde und Rassehunde.
20 Jugendliche mit Red Bull
Auch die Jugend trifft sich heute öfter an Tankstellen. Die Freunde von Tschuchniggs 18-jährigem Stiefsohn würden zusammen vor der Jet-Tankstelle im Nachbarort Stainz stehen. 20 Jugendliche mit Red Bull, so schildert es Tschuchnigg. Die Älteren blieben drinnen. So erobert sich die Jugend am Land ihren Raum, zumindest ein paar Quadratmeter Tankstellenasphalt.
Das Geschäft läuft gut, auch wenn es schon einfacher war. Die Gewinnmarge bei einem Liter Benzin? Drei bis vier Cent, sagt Tschuchnigg. Früher, in den Achtziger Jahren? 1,5 bis zwei Schilling, viel mehr also. Im nahen Stainz werden mittlerweile Tankstellen von Jet und Turmöl betrieben, neue Konzern-Konkurrenz.
Einmal im Jahr gibt die Mineralölindustrie einen Tankstellenbericht heraus. Ende 2017 gab es 2.685 Tankstellen in Österreich. Ziemlich genau die Hälfte sind sogenannte Major-Betriebe (Eni, BP, Shell, OMV u. a.). Der Rest entfällt vor allem auf kleine Ketten. Nur 359 sind sogenannte weiße Tankstellen: Einzelbetriebe wie der von Edi Tschuchnigg.
Jedes Jahr kommen außerdem neue Automatentankstellen hinzu, 2017 waren es weitere 24 Stationen. Rund ein Viertel aller Tankstellen kommen in Österreich schon ohne Personal aus.
Männer schraubten und schwitzten
Harry Pfleger ist so etwas wie ein Tankstellenhistoriker und -nostalgiker. 1982 stieg er ins Geschäft ein. Heute ist er Pächter der Roth-Tankstelle in Graz-Liebenau, kurz vor der Autobahn. Pfleger bekommt leuchtende Augen, wenn er von früher erzählt. Damals waren Tankstellen meist auch Werkstätten. Keine Shops, keine Gastronomie. Männer schraubten und schwitzten. In der Luft waberten Motoröl, Reifengummi und Testosteron.
Heute geht es vor allem ums Geschäft. Die Konzerne hinter den Major-Marken bauen schwache Standorte zu Automatenstationen zurück. Pfleger nennt sie „unbemannte Tankstellen“. Warum sie das tun? „Die Konzerne sparen sich einen Pächter und die Betriebskosten, die ganze Arbeit“, erklärt Pfleger. Aber er beobachtet zwei parallele Entwicklungen. Auf der einen Seite Automatisierung, auf der anderen „bekommen die gut gehenden Stationen einen Mega-Shop und super Gastronomie“. Das große Aussortieren sei wohl vorbei, sagt Pfleger, „der Markt der unbemannten Tankstellen ist ziemlich gesättigt“.
"Wie soll ein Wirt da überleben?"
Eine halbe Autostunde von Graz, in Tillmitsch in der Südsteiermark, findet sich noch eine Tankstelle, in der die Zeit stehengeblieben scheint. Martin Sunko, 56 Jahre alt, ein wortkarger, aber freundlicher Mann, betreibt neben vier Zapfsäulen noch eine Werkstatt samt Reifenhandel. Wie Tschuchnigg gehört Martin Sunko die Tankstelle selbst, sie heißt auch wie er: Martin Sunko e.U. (Einzelunternehmen).
Wenn Sunko für seine Gäste einen Espresso runterdrückt oder ein Bier zapft, sieht man die Ölränder unter seinen Fingernägeln. Hier werden noch Kupplungen gerichtet und Zündkerzen getauscht, Sunko ist gelernter Mechaniker. Ein Bistro gibt es zwar schon, im Shop prägen aber Zündkerzen und spezielles Autozubehör wie Teerentferner oder Gummibalsam das Bild. Kulinarische Schmankerl muss man anderswo suchen.
„Wenn man beim Möbel-Lutz ein Schnitzel um 2,90 Euro bekommt, wie soll da ein Wirt überleben?“, fragt Sunko. Nicht weit von hier liegt ein riesiges Einkaufszentrum. Nein, so aufs Auto ausgerichtet, wie er’s hat, gefällt ihm seine Tankstelle. Inzwischen steht sein Sohn Markus meistens in der Werkstatt, Sunko senior widmet sich dem Bewirten.
Am Vormittag kommen vor allem Pensionisten. „Der Greißler, die Poststelle, die Gendarmerie sind so schleichend verschwunden“, erzählt einer von ihnen. Das Kleinteilige sei ihm verlorengegangen, die Ordnung, die Übersicht. Sunkos Gäste kommen auf ein Puntigamer oder einen G’spritzten, weil die Welt hier noch ein bisschen wie früher ist. Bekannte Gesichter, bekannte Geschichten.
Im Online-Lexikon Wikipedia steht, eine Tankstelle sei eine „Versorgungsanlage“, an der Fahrzeuge mit Kraftstoffen versorgt werden. Am Land ist das nur die halbe Wahrheit. Dort spiegeln Tankstellen die Wesenszüge ihrer Betreiber und Besucher wider. Edi Tschuchnigg sagt, er habe keine Angst vor Tankautomaten und E-Autos. Selbst wenn die Konzerne ihre Geisterstationen mit Essens- und Getränkeautomaten aufrüsten sollten. „Das ist ja nicht der Sinn, warum man stehenbleibt“, sagt Tschuchnigg. „Man will mit jemandem reden, und mit dem Automaten tut man sich schwer.“
Dieser Artikel erschien erstmals im August 2018 auf kurier.at
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