Kinder als Versuchskaninchen
Dreizehn Jahre war Walter Nowak alt, als er 1970 in die Psychiatrische Klinik im schweizerischen Münsterlingen gebracht wurde. Das Erziehungsheim und Internat St. Iddazell in Fischingen (Schweiz), wo Nowak lebte, ließ ihn dort wegen nachlassender schulischer Leistungen kinderpsychiatrisch untersuchen. Wie der Züricher Tages-Anzeiger berichtet, wurden an Nowak jahrelang nicht zugelassene Psychopharmaka getestet. Er dürfte kein Einzelfall sein.
Nowak, 1956 in Wien geboren, zog mit seinen Eltern in die Schweiz. 1969 kam er nach der Scheidung der Eltern in das Erziehungsheim in der Nähe von St. Gallen. Bereits im Jahr darauf wurde er in der angesehenen Klinik Münsterlingen psychiatrisch untersucht. Ihm wurde unter anderem eine „depressive Störung“ attestiert. „Wenn er nicht zu aufgeregt oder zappelig wird“, heißt es im dem KURIER vorliegenden Krankenakt, könne ihm das Erziehungsheim pro Tag 3 x 2 der „beiliegenden Tabletten“ verabreichen. Das Medikament wurde schlicht als G 35 259 bezeichnet.
Es handelt sich dabei um das Antidepressiva Ketotofranil, das in den 1960er-Jahren getestet worden ist, jedoch nie in den Handel kam. Selbst bei der Firma Novartis ist das Medikament heute nicht mehr bekannt. „Wir haben in unserer Datenbank nichts gefunden“, sagt Sileia Urech, Pressesprecherin von Novartis Schweiz.
Experimente
„Unter meinem Vorgänger Roland Kuhn wurde in Münsterlingen mit neuen Medikamenten und noch nicht zugelassenen Prüfstoffen experimentiert“, wird Karl Studer im Tages-Anzeiger zitiert. Für den KURIER war Studer, von 1980 bis 2006 Klinikdirektor in Münsterlingen, nicht erreichbar. Der ehemalige Klinikchef und Chefarzt hält es für möglich, dass auch andere Internatsschüler aus Fischingen mit nicht zugelassenen Substanzen behandelt wurden.
Grund für den über Jahre verabreichten Medikamenten-Cocktail ist für Studer, dass die Entwicklung von Antidepressiva damals noch in den Kinderschuhen steckte. Man habe eifrig versucht herauszufinden, welche medizinischen Maßnahmen bei den Krankheiten angebracht seien, wird Studer zitiert.
Walter Nowak selbst ist aus allen Wolken gefallen: „Ich konnte mich an die Tabletten und die Klinik nicht mehr erinnern.“ Erst bei der Lektüre seines Krankenaktes sei ihm nun klar geworden, dass man an ihm nicht zugelassene Medikamente getestet habe. Ob es durch die Behandlung in der Klinik Münsterlingen Spätfolgen gibt, wurde noch nicht abgeklärt. Novartis sagte gestern zu, sich „noch diese Woche der Aufarbeitung der Angelegenheit anzunehmen“.
Nowak lebt heute in Vorarlberg. Das Internat und Erziehungsheim im nahen Fischingen lässt ihn auch nach mehr als 40 Jahren nicht los (siehe unten) : „Die haben mich ruiniert. Eine richtige Freude am Leben habe ich nie verspürt.“
Der Fall Walter Nowak reicht weit über die medizinischen Tests hinaus. Nowak soll in den 1970er-Jahren von einem im Erziehungsheim Fischingen (Schweiz) tätigen Pater mehrere Jahre lang sexuell missbraucht worden sein. „Der Mann war brutal. Er war ein Folterknecht und Sadist.“ Es soll mehrere Betroffene geben. Am 7. November hat Nowaks Anwalt Philip Stolkin eine Klage gegen den Pater eingereicht.
Unterstützung von offizieller Seite bekommt der gebürtige Wiener, der heute in Vorarlberg lebt, bis dato keine. Weder in Österreich noch in der Schweiz kümmert sich jemand um die Anliegen des 56-Jährigen.
Nicht zuständig
Die von der katholischen Kirche in Österreich eingesetzte Opferschutzanwaltschaft (Klasnic-Kommission) fühlt sich für Nowak nicht zuständig. „Wenn die Vorfälle in der Schweiz passiert sind, sind dortige Gremien zuständig“, sagt Kommissionssprecherin Herta Miessl. „Die katholische Kirche hört ja nicht an der Staatsgrenze auf“, wundert sich Nowak.
Doch auch in der Schweiz ist der Vorarlberger mit Forderungen abgeblitzt. Dort hat sich die katholische Kirche – im Gegensatz zu Österreich – bisher zu keiner einheitlichen Entschädigungsrichtlinie aufraffen können. „Wir sind gerade dabei die Ausführungsbestimmungen auszuarbeiten“, sagt Walter Müller, Pressesprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Es gebe aber in allen Diözesen Meldestellen für kirchliche Missbrauchsopfer.
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