Immer mehr abgenommene Kinder
Es ist bald zwei Jahre her, dass das Wiener Jugendamt Majida D.* die Hiobsbotschaft mitteilte: Sie soll sich von ihrem Sohn verabschieden, am besten, ihn vergessen. Seitdem hat die gebürtige Somalierin, 24, mit ihrem Mann für ihr Kind gekämpft. Sie standen wegen eines Misshandlungsvorwurfs vor einem Strafrichter, riefen den Obersten Gerichtshof an und sammelten Geld in der somalischen Community, um sich das leisten zu können.
Immer häufiger schreitet in Wien (und anderen Bundesländern) das Jugendamt ein und nimmt Eltern Kinder ab. Im Vorjahr war es 718-mal der Fall, im Vergleich dazu lag der Wert 2013 bei 582. In Wien gab es – wie am Sonntag im KURIER berichtet – im Jahr 2015 in Summe 3768 Kinder, für die der Staat die Obsorge übernommen hatte (siehe Zusatzbericht).
Eines davon war Said*, der am 7. September 2014 zur Welt kam. Es war keine normale Geburt: Sie dauerte 23 Stunden, bis Said mit einer Saugglocke geholt wurde. Drei Monate vergehen, bis sich das Jugendamt einschaltet. Auf Anraten eines Kinderarztes hatte das Paar den Buben in ein Wiener Spital gebracht. "Sonnenuntergangsphänomen" nennen es Ärzte, wenn die Iris unter den unteren Lidrand rutscht. Im Spital diagnostizierte man "subdurale Blutungen im Gehirn" und – obwohl der Bub bei der Aufnahme genau untersucht wurde – fiel den Pflegern spät ein "Hämatom auf der rechten Wange" auf. Eine Ärztin setzte eine Gefährdungsmeldung ab. Die Kinder- und Jugendhilfe entzog den Eltern die Obsorge – wegen Gefahr in Verzug.
Bis hierher ist alles vertretbar: Es gibt ein verletztes Kind, einen Misshandlungsverdacht und den gesetzlichen Auftrag, in solchen Fällen zum Wohle des betroffenen Kindes zu agieren.
Die Pflegschaftssache "Said" ist am Bezirksgericht Hernals anhängig. Ein rechtsmedizinisches Gutachten legt nahe, dass Said geschüttelt worden sei. Er muss zu einer Pflegemutter.
Gutachten ignoriert
Trotz dieser Ermittlungsergebnisse beantragt die Kinder- und Jugendwohlfahrt die "gesamte Obsorge" für Said. Dauer-Pflegeeltern bei Linz würden schon warten.
Inzwischen spricht eine Strafrichterin die Eltern frei: "Ein Gewaltpotenzial oder eine Überforderung waren nicht zu erblicken", heißt es im Urteil. Die Familienrichterin aus Hernals, die dem Strafprozess im Saal verfolgt hatte, schwenkt um: Nachdem eine Psychologin die Eltern für voll erziehungsfähig eingestuft hatte, ordnet sie die "Rückführung" Saids zu seinen Eltern an.
Beharrliches Amt
"Man hätte jetzt die Situation zugunsten des Kindes überdenken müssen", sagt Florian Kucera, der Anwalt der Mutter. Doch die Behörde bleibt beharrlich, erwirkt, dass das Landesgericht für Zivilrechtssachen die Rückkehr des Buben stoppt. Beide Eltern beteuerten: "Wir würden ihm nie etwas antun. "
In dem Behörden-Akt wird akribisch beschrieben, wie Said im Beisein seiner leiblichen Eltern reagiert. Ob er weint, lacht, wie der Vater das Kind hält. Dass die Familie in einer 22 m² großen Substandard-Wohnung und von 1200 Euro im Monat lebt, bleibt eine Randnotiz. Eine Leerstelle bleibt: Kein Gutachter erwähnt D.s Beschneidung, die sie in ihrer somalischen Heimat erlitten hatte. Einschlägige Literatur zeige deutlich, dass die Folgeschäden eine Geburt verkomplizieren können, sagt Kucera.
Wie entschlossen das Amt gewesen sei, überraschte selbst Familienrechtsanwalt Kucera. Bis zuletzt sei seiner Mandantin signalisiert worden, sie hätte "keine Chance mehr auf das Kind".
Schließlich spricht der Oberste Gerichtshof ein Machtwort: Said kam in der Vorwoche zurück zu seinen Eltern. Er ist nun zwei Jahre alt. Ob er Schäden davongetragen hat, lässt sich noch nicht sagen. Seine Eltern hatten gleich drei Gründe für ihre Willkommensfeier: Die beiden verpassten Geburtstage und seine Rückkehr.
*Name geändert
Die Zahl der Kinder, die in Fremdbetreuung leben, nimmt ständig zu. Allein in Wien wurden im Vorjahr 718 Kinder bei Pflegeeltern, Verwandten oder in Wohngemeinschaften untergebracht. Mit diesen Neuankömmlingen waren 2015 in Wien insgesamt 3768 Kinder von ihren Eltern getrennt (2011 waren es 3320). Der Anstieg hängt auch damit zusammen, dass in Kindergärten, Schulen, bei Ärzten genauer hingeschaut wird und mehr Gefährdungsmeldungen erstattet werden (2015 in Wien 13.532-mal).
Wobei „die Vernachlässigungen das größere Problem als die Misshandlungen sind“, sagt Petra Mandl von der Magistratsabteilung 11 in Wien: „Eltern können vielfach keine Grenzen mehr setzen, sie trauen sich aus dem Bauchgefühl heraus nicht mehr, den Fernseher abzudrehen oder das Handy wegzunehmen.“
Die Unterbringung von Kindern bei Pflegefamilien war laut Sozialarbeiterin Petra Mandl früher „eine vertrackte Adoption“, also quasi für immer. Pflegeeltern waren Privatpersonen, die sich selbst und denen die Mitarbeiter des Jugendamtes zutrauten, (zusätzliche) Kinder bei sich aufzunehmen. Jetzt gibt es mehr sozialpädagogisch geschulte Pflegeeltern auf Zeit. Und der Kontakt zu den leiblichen Eltern wird möglichst aufrechterhalten. „Dass die jahrelang keinen Kontakt zu ihrem Kind haben und dann auf einmal zu Gericht gehen, weil sie das Kind zurückhaben wollen, ist nicht unsere Vorstellung“, sagt Petra Mandl. Die Rechtsprechung der Familiengerichte geht auch in diese Richtung, „die Familie erhalten steht jetzt im Vordergrund.“
Der Oberste Gerichtshof (OGH) ist der Ansicht, dass sich Eltern – denen ihr Kind abgenommen worden ist – entwickeln können. Und dass es sehr darauf ankommt, wie alt das Kind ist. Im Fall Said (siehe oben) sagte der OGH: „Selbst wenn die Eltern mit der Betreuung eines Säuglings überfordert gewesen sein sollten, muss dies nicht notwendigerweise gleichermaßen für ein Kind im Kindergartenalter gelten.“
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