Naturheilkunde: Wie sich kranke Tiere selbst behandeln

Minutenlang kaute Rakus die Blätter, die er gezielt von Lianen gezupft hatte. Dann trug der Orang-Utan den Pflanzensaft auf seine tiefe Wunde am rechten Backenwulst auf. Zuletzt bedeckte er die Verletzung, die er sich drei Tage zuvor wohl im Kampf mit einem Artgenossen aus der Nachbarschaft zugezogen hatte, komplett mit dem Brei.
Immer wieder verarztete sich der Patient, außerdem ruhte er mehr als sonst. Fünf Tage später hatten die entzündungshemmenden, schmerzstillenden Stoffe der Kletterpflanze ihre Wirkung getan und die Fleischwunde verschlossen. Bis zur vollständigen Heilung sollte es ein Monat dauern.
Zoopharmakognosie ist durchaus verbreitet
„Die Selbstmedikation durch Verzehr bestimmter Pflanzenteile ist im Tierreich weit verbreitet, kommt in der Praxis aber eher selten vor“, schreibt Isabelle Laumer in Scientific Reports. Die Primatologin am deutschen Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie hatte Rakus auf Sumatra täglich beobachtet. Kürzlich erschien die Dokumentation der „aktiven Wundbehandlung mit einer biologischen Substanz bei wilden Tieren“.

Regenwald: Kranke Aras neutralisieren Giftstoffe im Darm mit tonhaltiger Erde
„Tiere können sich keine Tinkturen oder Tees zubereiten, aber es gibt sehr viele Naturstoffe mit pharmakologischen Effekten“, sagt Karin Zitterl-Eglseer. Die Professorin für Angewandte Botanik an der Vetmeduni Wien kennt zahlreiche Beispiele für Doktor Tier. Aus dem Regenwald bis in die Alpen.
Schimpansen schlucken haarige Blätter zur Entwurmung
„Von Schimpansen etwa ist bekannt, dass sie pelzig-stachelige Blätter verschlucken, um Würmer loszuwerden“, sagt die Pharmazeutin. Die Parasiten verfangen sich im haarigen Grünzeug und werden so physikalisch über den Kot ausgeschieden.
Andere tierische Therapeuten setzen auf toxische Pflanzenstoffe, die Schmarotzer lähmen oder abtöten. Dabei freilich macht die Dosis das Gift. Bekommen z.B. Schafe zu viel Wurmfarn ab, sterben sie innerhalb weniger Stunden.

Alpen: Verletzte Gämsen wälzen sich in Wegerich, um schneller zu genesen
Je bunter das Biotop, desto umfangreicher die Apotheke. „Forscher, die Tiere bei der Selbstmedikation beobachten, können chemisch austesten, ob etwas z.B. antibiotisch wirkt oder gegen Viren“, sagt Karin Zitterl-Eglseer von der Vetmeduni Wien. Was Tieren hilft, tut potenziell auch Menschen gut.
- Pflanzlicher Schleim. Zuckerverbindungen machen die Haut geschmeidig. Sie bilden eine Schutzschicht, beruhigen Juckreiz und hemmen Entzündungen.
- Gerbstoffe. Diese Stoffe vernetzen sich mit den Eiweißmolekülen in der Haut und dichten die Hautoberfläche ab. Sie stoppen den Ausfluss von Sekreten und töten Bakterien sowie Viren ab. „Tiere nehmen wahr, dass Gerbstoffe auch Blutungen stillen“, sagt die Expertin für Arzneimittel aus lebenden Materialien.
- Ätherische Öle. Die Öle aus Blüten, Blättern oder Wurzeln sind besonders vielseitig. Sie wirken stark antibakteriell, können aber ebenso gegen Viren, Pilze und Parasiten eingesetzt werden. Sie beeinflussen selbst das Mikrobiom.
- Harzbalsam. Der klebrig-zähe Saft der Baumzellen fördert die Durchblutung, lindert Schmerzen, desinfiziert und bringt Wunden zum Heilen. Außerdem reduziert Harz Muskel- und Gelenkbeschwerden.
„Tiere können pflanzliche Stoffe äußerlich oder innerlich anwenden“, sagt Zitterl-Eglseer. Verletzte Gämsen z.B. wälzen sich in Alpenwegerich. Bären futtern nach dem Winter Bärlauch, um den Stoffwechsel anzukurbeln. Orang-Utan Rakus nahm die Blätter oral ein. Und er verband seine Wunde damit.

Rotes Meer: Delfine reiben sich an Korallen, um die Haut gesund zu halten
„Es ist der Fall einer Affenmutter beschrieben, die ihr Junges mit speziellen Blättern zum Erbrechen brachte“, zählt Zitterl-Eglseer einen weiteren Ansatz in der Veterinärmedizin der besonderen Art auf. Die Primatin konnte den Nachwuchs, der seinen Organismus durch falsche Kost bedrohlich belastet hatte, retten.
Hauskatzen übrigens lösen den Würgereflex mit groben Fasern aus Gras aus, um das Gewölle loszuwerden.
Vögel schützen sich mit Ameisensäure oder Heilkräutern vor Parasiten
„Manche Vogelarten wälzen sich in Ameisenhaufen“, schwenkt die Spezialistin für veterinärmedizinische Phytotherapie von den Säugern zum Federvieh. Mit der Ameisensäure entledigen sich z.B. Eichelhäher und Krähen lästiger Milben.
Eine deutsche Studie belegte bereits 2005, dass Gemeine Stare Heilkräuter in ihren Nestern verbauen, um sich vor Zeckenbefall zu schützen. Papageien wiederum picken tonhaltige Erde auf, wenn sie Giftstoffe aus Samen im Darm neutralisieren wollen.
Selbstmedikation ist erlernt
„Die Selbstbehandlung vor allem bei höheren Tieren ist erlernt“, vermutet Zitterl-Eglseer. Patienten merken durch Zufall, dass ihnen ein Wirkstoff gut tut. Lern- und merkfähig greifen sie später bei Bedarf auf die Natur-Apotheke zurück. Und geben ihr Wissen an die nächste Generation weiter.
Davon geht auch Isabelle Laumer bei Rakus aus: „Es ist möglich, dass die Wundbehandlung eine individuelle Erfindung darstellt.“
Für die Verhaltensbiologin liefert der wilde Arzt auf Sumatra aber noch eine Erkenntnis – nämlich über die evolutionären Ursprünge der Selbstbehandlung. „Unser letzter gemeinsamer Vorfahre könnte bereits ähnliche Formen des Wundpflegeverhaltens gezeigt haben.“
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