Die Flammen lodern aus dem mächtigen Schmelzofen. Im Inneren herrscht brutale Hitze – dort, wo sich die Bronze allmählich verflüssigt. Bald ist die Marke von 1.100 Grad Celsius erreicht – die ideale Schmelztemperatur.
Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Was für die Zuschauer einem archaischen Schauspiel gleicht, ist für die Verantwortlichen ein Moment höchster Präzision. Wenige Minuten entscheiden über Gelingen oder Scheitern. Der Glockenguss beginnt.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr
„Das können wir nicht verschieben“, sagt Johannes Grassmayr. Er und sein Bruder Peter führen das Familienunternehmen inzwischen in 14. Generation. Seit dem Jahr 1599 stellt die Gießerei Glocken her. Und doch liegt Anspannung in der Luft – trotz der jahrhundertelangen Erfahrung. Es kann noch viel schief gehen.
Bis die Glockengießer sehen, ob alles passt, muss das Metall erst wieder kalt werden.
Kunst des Glockengießens
An diesem frühlingshaften Tag werden im Innsbrucker Betrieb, am Fuße des Bergisel, Glocken für Rumänien gegossen. Zuschauer finden sich in der Werkstatt ein. Die Kunden, Vertreter der Pfarren in Rumänien, sind eigens angereist. Die Priester dürfen die Absperrung passieren, sich zwischen den Glockenformen bewegen. Sie schreiten die beiden Reihen nicht ab, sie flitzen hindurch, um die Formen zu segnen. Heute muss alles schnell gehen: Die Bronze ist bald bereit, denn die Schmelzdauer hängt nicht zuletzt von der Witterung ab.
In Schutzkleidung gehüllt, steigt einer der Glockengießer auf eine Treppe, die zum Schmelzofen geschoben wurde. Mit einem Holzstamm rührt er im Inneren des Ofens um. Funken fliegen.
Das Gussmaterial muss in Bewegung gehalten werden. Jetzt sollten die Zuschauer leise sein, damit sich die Glockengießer verstehen. Ihre Kommandos hallen durch den Raum.
Glockenklang fasziniert die Menschen
Seit dem Frühmittelalter prägt der Klang der Glocken die europäische Kulturgeschichte – und bis heute übt er eine Faszination auf den Menschen aus. Ihre liturgische Bedeutung verlieh ihnen wohl jene Mystik, die ihre Herstellung bis heute umgibt. Diese Geheimnisse werden von Glockengießerfamilien seit Jahrhunderten gehütet – so auch von der Familie Grassmayr.
Johannes Grassmayr in der Gießerei. Im Hintergrund das flüssige Metall.
Im hauseigenen Museum erfährt der Zuschauer vieles, aber niemals alles. Seit Wochen wird an den Glocken für Rumänien gearbeitet. Hunderte Arbeitsstunden stecken in jedem einzelnen Stück, um etwa die Verzierungen vorzubereiten. Im ersten Stock neben der Werkstatt befindet sich ein Archiv. Die Heiligen, genauer gesagt: die Gipsformen für die Heiligen, sind hier alphabetisch geordnet. Mit ihrer Hilfe werden sie dann aus Wachs gefertigt. Sie hinterlassen ihren Abdruck auf der Glocke.
Für jede Glocke muss zunächst eine eigene Form gebaut werden. Das alte Lehmformverfahren ist noch in Gebrauch. Es entsteht die sogenannte falsche Glocke, die dann den Hohlraum für den Guss schafft. „Wir haben das Verfahren weiterentwickelt“, sagt Grassmayr.
Die Familie steht im Austausch mit Universitäten und technischen Instituten. Auch Computersimulationen kommen zum Einsatz. Denn um als Unternehmen bestehen zu können, setzen die Brüder auf Innovation und Qualität. „Wir müssen die Stradivari unter den Glocken machen.“ Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren zugesperrt, in Österreich sind die Grassmayrs die letzten Gießer von großen Glocken.
20.696 Glocken
läuten in den Kirchen der österreichischen Diözesen. Evangelische Kirchen sind da nicht mitgerechnet. Fast alle Diözesen haben eigene Glockenbeauftragte. Sie sind für die Zählung und Erhaltung zuständig
3.545 Einzelglocken
läuten alleine in der Erzdiözese Wien. Darin sind auch Glocken von Schloss- oder Friedhofskapellen miteingeschlossen
Mit manchen Verbliebenen aus Deutschland matchen sich die Brüder aus Innsbruck – etwa den Kollegen in Passau. Oder auch nicht. „Wir müssen die Besten sein“, sagt Johannes Grassmayr.
Weitergabe des Feuers
Er sieht die Glocke in erster Linie als Musikinstrument, das sauber klingen soll. Aber: „Das Ziel ist auch, dass die Glocke so schön ist, dass sie die Kunden am liebsten küssen würden.“ Die Grassmayrs haben sich ein Ziel gesetzt: einmal pro Monat ein Experiment, einmal pro Monat ein Tabubruch. „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“, zitiert Grassmayr.
Feuer gibt es genug. Das flüssige, orangerot leuchtende Metall wird in einen Gießbehälter gefüllt.
20,1 Tonnen
wiegt die Pummerin. Sie ist die schwerste Glocke Österreichs und unter den Top 10 weltweit. Sie läutet im Stephansdom. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in St. Florian neu gegossen. Die zweitgrößte Glocke des Landes ertönt im Salzburger Dom. Die „Salvator“ bringt 14.256 kg auf die Waage.
202 Tonnen
wiegt die Zarenglocke in Russland. Sie hat allerdings nie geläutet, da sie schon nach dem Gießen kaputtgegangen ist. Sie steht als Sehenswürdigkeit auf einem Sockel im Kreml.
Ein Kran, montiert an der Decke der Gießerei, bringt es zur vorbereiteten Glockenform. Jetzt beginnt der Guss. Eine Glocke nach der anderen: die 1.300 Kilogramm schwere für Focșani, die 230 Kilogramm schwere für Palota, die 270 Kilogramm schwere für Bukarest-Mavrogheni … Und jede Glocke ist ein Unikat.
Im Ofen der Gießerei lodern keine Flammen mehr. Es ist still geworden in der Halle. Zuschauer und Glockengießer haben sich in den Garten zurückgezogen. Schnapserl werden gereicht. Und wie könnte es anders sein: Glocken vom hauseigenen Glockenspiel erklingen.
Doch die Unsicherheit bleibt noch eine Weile: Ist der Guss gelungen? Das Metall muss mehrere Tage erkalten. Erst dann wird sich zeigen, ob alles nach Plan verlaufen ist. Meist klappt’s. Denn schon viele Glocken aus Innsbruck läuten auf der ganzen Welt. Von Tirol bis China, von Tschechien bis Indien.
"Die Pummerin raunzt nicht mehr so"
Nur eine Stunde pro Jahr läutet die Pummerin – heute, am Ende des Hochamts gegen Mittag, ist es wieder so weit. Trotz der wenigen Einsätze war die Glocke im Wiener Stephansdom über Jahre hinweg zu stark belastet. Was tun, um das Wahrzeichen länger zu erhalten?
2007 untersuchte ein Projektteam aus 14 europäischen Institutionen – darunter Hochschulen und Klöppelspezialisten – im Rahmen des Glockenforschungsprojekts ProBell die Pummerin. Auch die Glockengießerei Grassmayr war beteiligt. Das Ergebnis: Der Klöppel musste ersetzt und leichter werden. Statt 860 wiegt er nun „nur“ mehr 600 Kilogramm. Der alte Klöppel ist heute bei Grassmayr ausgestellt.
Das Wichtigste beim Austausch: Der Klang musste erhalten bleiben. So mancher Wiener blieb skeptisch – wohl auch, weil das Projekt ProBell seinen Hauptsitz im deutschen Kempten hat. Michael Plitzner, Leiter des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken ECC-ProBell, erhielt gar einen Brief aus Wien, in dem geschrieben stand: „Die Pummerin raunzt nicht mehr so“ – und das war als Kritik gemeint.
In Kempten werden die Glocken zu Forschungszwecken geläutet.
Bei ProBell kümmert man sich intensiv um den Klang. Denn wenn eine Glocke beschädigt ist, leidet der Ton. „Sie klingt dann wie ein Blecheimer“, sagt Plitzner. Das Kompetenzzentrum will nun von möglichst vielen Glocken einen musikalischen Fingerabdruck. Mit ihm kann der Zustand der Glocke überwacht werden. Im Rahmen eines Citizen-Science-Projekts nehmen Interessierte ihre Glocken auf und liefern so eine Schwingungsanalyse. Das Ziel: Jede Glocke ist einzigartig – und ihr Klang soll nicht verloren gehen.
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