Holocaust-Überlebende Eva Schloss hat im Alter von 92 Jahren wieder die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen
25.07.21, 05:00
Von Anna-Maria Bauer
Im Waggon ist kaum Luft zum Atmen. Es sind zu viele Menschen. In der Ecke steht ein Eimer, der einmal am Tag ausgewechselt wird. Dann geht kurz die Tür auf und die SS-Wachmänner werfen etwas Brot hinein. Eva und ihre Familie lassen einander nicht los. Einmal dreht sich Heinz zu seiner 15-jährigen Schwester. „Ich habe meine Bilder in dem Haus noch unter Bretterdielen versteckt“, sagt er. „Du musst sie danach holen.“ Eva runzelt die Stirn. „Wir holen sie zusammen“, sagt sie. „Aber wenn ich nicht mehr da bin“, erwidert er, „dann machst du das, ja? Versprich mir das.“ Sie verspricht es; das war vor 77 Jahren.
Eva Schloss, geborene Geiringer, ist als junges Mädchen von den Nazis aus Österreich vertrieben und nach Jahren der Flucht in Amsterdam gefangen genommen worden. Als eine der wenigen hat sie zwei Jahre im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt und ist nach dem Krieg mit Ehemann Zvi Schloss nach London gezogen. Nun, im Alter von 92 Jahren, hat sie wieder die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen.
Die Staatsbürgerschaft
Ein wenig ausgelöst hat das ihre Tochter Jacky. Seit September 2020 können Nachkommen von NS-Opfern Anträge auf österreichische Staatsbürgerschaft stellen. Bis Juni dieses Jahres haben das 12.525 Menschen in Anspruch genommen. Jacky Schloss und ihre Kinder sind drei davon.
Der KURIER hat Eva Schloss nach der Verleihung in ihrer Wohnung in Nordlondon besucht. „Einfach war die Entscheidung nicht“, sagt sie, nimmt im roten Ohrensessel im Wohnzimmer Platz.
„Meine Mutter hat immer gesagt, sie würde nie wieder einen Fuß nach Österreich setzen, sie haben uns ja hinausgeschmissen. Aber es sind drei neue Generationen. Ich sehe, dass es Österreich leidtut. Es war Zeit, den Hass loszulassen.“ Sie ergänzt: „Und eigentlich mag ich Österreich.“ Urlaube in den Bergen, barfuß über die Wiesen, Sonntage mit Leberknödelsuppe. „Es war eigentlich die beste Zeit, das Leben anzufangen.“
Bis zu dem einen Tag, sie war neun Jahre alt, an dem sich alles änderte. „Ein paar Tage nach dem Anschluss“, sagt sie, „ist mein Bruder mit zerrissener Kleidung und blutig nach Hause gekommen. Er hat gesagt, dass das seine Freunde waren. Und dass die Lehrer zugeschaut haben.“ Heimlich ist die Familie zunächst nach Belgien ausgewandert. „Wir haben natürlich nichts mitnehmen dürfen.“ Ihre Mutter versucht noch, Möbel zu verkaufen, um Geld für die Flucht zusammen zu bekommen. „Aber die Leute haben gewusst, dass sie es sowieso nehmen werden, und haben nichts gegeben.“
In Belgien ist die Zeit für Eva kaum besser. Als Flüchtlinge werden sie gemieden. Als sie ein paar Mädchen zu ihrem Geburtstag einlädt, kommen diese am Tag des Fests mit einem Brief der Eltern in die Schule, der sagt, sie dürfen Eva nicht besuchen. „Heute denke ich mir: na ja. Aber damals war das ein riesiger Schlag für mich.“ Der Familie gelingt es, ein Visum für Holland zu erhalten. In dem Wohnkomplex am Merwedeplein lernt sie unter den Kindern ein Mädchen namens Anne kennen. „Sie flirtete gerne“, sagt Eva, lächelt in der Erinnerung. „Als sie gehört hat, dass ich einen drei Jahre älteren Bruder habe, hat sie gleich gefragt, wann sie ihn kennenlernen kann.“ Eva und Anne spielen miteinander, besuchen einander. Nach dem Krieg wird Evas Mutter Annes Vater, Otto Frank, heiraten. Das Tagebuch seiner Tochter, das Otto Frank eröffnet, wird bereits in den 1950ern zum meistverkauften Taschenbuch Deutschlands.
Fahrt in die Hölle
Nachkommen von NS-Opfern – also Enkel, Urenkel und auch Adoptivkinder – können seit September 2020 per Anzeige die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben. Zuvor waren nur NS-Opfer selbst anspruchsberechtigt
12525 Anzeigen auf Staatsbürgerschaft gemäß Paragraf § 58c Abs. 1 a wurden bis 1. Juni bei den österreichischen Botschaften oder beim Magistrat gestellt
Doch zunächst nimmt Hitler die Niederlande ein. „Wir durften nicht mehr in die Schule, nicht mehr ins Kino, nicht mehr nach acht auf die Straße.“ Als alle Jungen aufgerufen werden, sich für ein Arbeitslager zu melden, beschließt die Familie, unterzutauchen. Widerstandskämpfer bieten Verstecke. „Als mein Vater gesagt hat, dass ich mit Mutti und Heinz mit ihm kommt, habe ich geweint. Aber Vati hat gesagt: ,Wenn wir uns an zwei Plätzen verstecken, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass zwei von uns überleben. In dem Moment habe ich zum ersten Mal begriffen, dass ich sterben könnte.“
Im Versteck erscheint ihr die Welt zunächst sicher. Doch dann, am Morgen ihres 15. Geburtstags, ein lautes Klopfen. Beunruhigte Blicke: Die Gestapo steht vor der Tür. Die Familie muss ins Anhaltezentrum nach Westerbork, wenige Tage später nach Auschwitz. „Es war die Fahrt in die Hölle“, schreibt Eva Schloss viele Jahre später in dem Buch „Evas Geschichte“ (Brunnenverlag).
Erst 30 Jahre später wird sie das erste Mal über die Erlebnisse sprechen, ihre Erfahrungen teilen und fortan daran mitzuwirken, dass sich diese Zeit nie mehr wiederholt. Und so hat Eva Schloss mit ihrer Staatsbürgerschaft auch das goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich überreicht bekommen.
In Vorträgen, Theaterstücken und Büchern erzählt sie ihre Geschichte, die keiner erleben sollte: Sich mit zehn Personen ein Bett teilen zu müssen; eine Scheibe Brot und eine Tasse Ersatzkaffee am Tag zu erhalten; geschlagen zu werden, wenn man sich nicht auf die dreckige Toilette setzen möchte; stundenlang bei sengender Hitze einen Hocker über den Kopf halten zu müssen, weil man vom verunreinigten Wasser Durchfall bekommen hat; Ratten verscheuchen, die einem im Schlaf in blutige Zehen beißen. Es sind Wunder, die ihr das Leben gerettet haben, sagt sie. Etwa: Dass ihre Mutter sie beim Aussteigen in Auschwitz gezwungen hat, den Mantel und den großen Filzhut aufzusetzen. Obwohl es so heiß war. Doch unter dem Hut wurde ihre Jugend offenbar nicht erkannt. Sie darf in die Kolonne mit den Erwachsenen. Die Gruppe mit den Kindern und Schwachen, wissen sie heute, wurde direkt ins Gas geschickt.
Noch ein Wunder: Dass es ihrem Vater gelingt, zu ihr zu kommen. In diesen harten Tagen fast am Ende des Krieges, als sie glaubt, dass ihre Mutter nicht mehr am Leben ist. Und er ihr zureden kann: „Halte durch, Evertje.“ Es war die Liebe, die sie ihr Leben lang durch ihre Familie erfahren hat, die ihr auch das Leben gerettet hat. Und: Dass sie am Ende zu schwach sind, mit den Nazis das Lager zu verlassen. Und dann von den Russen gerettet werden. Ihr Vater und ihr Bruder hatten dieses Glück nicht.
Im Versteck gemalt
Eva Schloss erhebt sich aus ihrem Fauteuil. Sie kommt mit Gemälden zurück. Liebevoll detaillierte Alltagsszenen, realistische Porträtstudien. „Die hat mein Bruder in Holland im Versteck gemalt, alles aus der Fantasie“, sagt sie. An die 30 Stück, auf Polsterüberzügen, Leinwände waren nicht zu bekommen. Sie waren noch unter den Bretterdielen, als Eva nach dem Ende des Krieges zu dem Haus in Amsterdam zurückgekehrt ist. Heute hängen die Originale im Widerstandsmuseum in Holland, Kopien hat sich Eva aber behalten. „Und ich habe ein kleines Buch für jüngere LeserInnen geschrieben, „The Promise“, (Penguin Books dt. „Amsterdam, 11. Mai 1944“, Eckhaus Verlag), das seine Geschichte erzählt.“ Er sei in so vielen Aspekten ein herausragender Mensch gewesen, habe Eva so viele Geschichten erzählt, neben den Gemälden die gefühlvollsten Gedichte auf Holländisch verfasst. Bereits drei Theaterstücke sind in Amerika aus dem Buch entwickelt worden. Und mit einem Filmemacher arbeitet sie an einem Animationsfilm über Heinz, für den sie noch etwas Finanzierungshilfe benötigt.
„Aber das möchte ich noch erreichen“, sagt Eva und blickt auf die Bilder, die Heinz gemalt hat: „Dass mein Bruder nicht vergessen wird.“
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