Erzieher ließen Heimkind beinahe sterben

Erzieher ließen Heimkind beinahe sterben
Als Simulant und Arbeitsverweigerer wurde ein Heimkind abgestempelt. Wenig später kam der Pfarrer zur "letzten Ölung".

Es handelt sich wieder um einen "Einzelfall", dem von der staatlichen Fürsorge das Leben zur Hölle gemacht wurde. "Mir haben sie in Kaiserebersdorf das Leben ruiniert", sagt der Tiroler Kurt Nairz, 56. Kaiserebersdorf war die berüchtigte Anstalt für schwer erziehbare oder straffällige Jugendliche in Wien-Simmering. Durch Pfusch des Anstaltsarztes und der Erzieher rang Nairz 1972 mit dem Tod. Jahre verbrachte er im Krankenhaus. Später musste ihm der Oberschenkel amputiert werden. Seitdem stützt sich Nairz auf Krücken.

Flucht aus dem Heim

Erzieher ließen Heimkind beinahe sterben

Mit 15 floh er 1971 aus dem Tiroler Kinderheim Westendorf. Auf der Flucht wurde er gefasst und vermutlich wegen "Vagabundage" nach Kaiserebersdorf gebracht. Dieses Heim war das Schlimmste, was Burschen damals angedroht worden ist.

Dort arbeitete Nairz als Bäcker, als er im Februar 1972 "ein Stechen im Knie" bemerkte. Es dauerte Tage, ehe er den Anstaltsarzt aufsuchen konnte. "Der ist nur an zwei Tagen für zwei Stunden da gewesen." Sich mit einer Salbe einzureiben, war der einzige Rat, den der Arzt ihm gab. Diagnose: Schleimbeutelentzündung. Die Schmerzen wurden schlimmer. Wieder beim Arzt, neue Salbe. Nach mehreren Wochen "konnte ich als Bäcker nicht mehr arbeiten". Das Stehen habe ihm "solche Schmerzen" bereitet.

Kerker

Erzieher ließen Heimkind beinahe sterben

Er weigerte sich, in die Bäckerei zu gehen. Das Urteil der Erzieher war rasch gefasst: "Arbeitsverweigerung". Heimkindern glaubt man nicht. Nur mit einer Unterhose bekleidet soll Nairz in den Kerker gesperrt worden sein. Dunkelhaft.

"Ich hab’ vor Schmerzen an die Tür gepumpert", sagt er heute. Kontakt gab es nur zu anderen Heiminsassen, die ihm das Essen durch den Türschlitz geschoben haben. Sonst habe sich niemand um ihn gekümmert.

Drei, vielleicht vier Tage lang, habe er noch durchgehalten. "Dann kann ich mich an nichts mehr erinnern."

Doch sein Bruder Gerhard Nairz wird diesen Tag nie vergessen. "Ich war damals Lehrling, 17 oder 18 Jahre alt", sagt der Tiroler. "Die Mama hat mich damals in der Arbeit weinend angerufen und gesagt: ,Der Kurti liegt im Sterben.""

Kurt war mittlerweile ins Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien gebracht worden. "Die haben uns gesagt, dass wir rasch hinkommen müssen, wenn wir ihn noch lebend sehen wollen. Er wird die nächsten 48 Stunden nicht überleben." Mutter und Geschwister eilten nach Wien ans Sterbebett. Ein Pfarrer soll bereits die "letzte Ölung" gespendet haben. "Kurti war nicht ansprechbar." Eine Sepsis habe der Bursch, sagten die Mediziner in Wien. Eine Blutvergiftung.

"Die Ärzte sagten, man müsse jederzeit mit seinem Tod rechnen." Die Mutter habe Tag für Tag am Bett des Sohnes ausgeharrt. Kurt Nairz überlebte, war aber monatelang bewusstlos.

Acht Monate wurde um das Leben des 15-Jährigen gekämpft. Die Blutvergiftung hatte seinen linken Oberschenkel schwer angegriffen. Wund gelegen war der Bursch, der "nur mehr Haut und Knochen war", wie sich sein Bruder Gerhard mit Tränen kämpfend erinnert. Noch heute sieht man mehrere zentimetertiefe Löcher auf Kurt Nairz’ Rücken.

Der noch immer kaum Ansprechbare kam in ein ständig durchflutetes Wasserbett ins Wiener Wilhelminenspital. Zweieinhalb Monate später wurde er ins Innsbrucker Landeskrankenhaus transferiert. Durch ein Fenster musste der von der Ferse bis zur Hüfte Eingegipste in den Zug gehievt werden.

Morphium-Entzug

"Ab Innsbruck beginnt wieder meine Erinnerung", sagt Kurt Nairz. "4. Stock, Zimmer 13." Der Gips kam weg, der Morphium-Entzug begann. Weitere 18 Monate musste er im Landesspital verbringen. "Es ging langsam bergauf", erinnert sich sein Bruder.

Die Folgen der im Heim mehrere Wochen lang unbehandelten Blutvergiftung: 75 Prozent Invalide, ein um zehn Zentimeter kürzeres linkes Bein (durch den monatelangen Gips wurde das Wachstum des Jugendlichen gehemmt), er war knie- und hüftsteif.

Amputation

Die Osteomyelitis (Knochenmarksentzündung), die sich bei Nairz zusätzlich gebildet hatte, wollte auch nach dem Krankenhaus nicht und nicht verheilen. Viele Operationen später musste ihm deswegen Anfang der 1980er-Jahre der linke Oberschenkel amputiert werden. "Damit ich eine Prothese tragen kann, wurde mir der Unterschenkel verkehrt eingesetzt."

"Ich kann, seit ich im Heim war, keinen Sport mehr machen, nicht schwimmen, nicht Rad fahren, nie mehr Fußball. Ich geh’ auf Krücken."

Was Nairz heute will? "Dass die Justiz einsieht, dass Fehler gemacht wurden." Bereits in den 1970er-Jahren habe sein Vater den Fall an die Innsbrucker Justiz weitergeleitet. Geschehen sei nichts. "Ich will als Opfer anerkannt werden, ich will, dass mir geglaubt wird. Ich will angehört und von einem Arzt untersucht werden, der feststellt, wie ich heute beinand’ bin." Sein Dank gilt den Spitalsärzten. "Die haben mein Leben gerettet."

Das Heim habe ihn nach seinem Transport ins Spital "nie wieder kontaktiert". Er habe kein Entlassungsschreiben bekommen und auch sein Heimsparbuch ("es wurden für meine Arbeit jeden Monat 70 Schilling auf ein Sparbuch überwiesen") habe er nie wieder gesehen.

Gremien: Spießrutenlauf für Betroffene

Entschädigungen Der Wildwuchs an Gremien ist in Sachen Kinderheime evident. So gibt es in vielen Bundesländern Anlaufstellen für Heimkinder. Die Opferschutzorganisation Weisser Ring führt etwa im Auftrag der Stadt Wien die Entschädigung von Ex-Zöglingen durch. Weiters gibt es auch in Städten wie Innsbruck eine eigene Anlaufstelle, die für das Land Tirol ist aber anderswo etabliert. Zudem kommt die von der katholischen Kirche eingerichtete Klasnic-Kommission, die die Entschädigungen für Zöglinge von kirchlichen Heimen abwickelt. Das u. a. für das Heim Kaiserebersdorf verantwortliche Justizministerium hat auch den Weissen Ring mit der Opfer-Betreuung beauftragt.

Mehr zum Thema

  • Hauptartikel

  • Hintergrund

  • Hintergrund

Kommentare