Über dem Limit: Bis der Bergdoktor kommt

Im Urlaub werden existenzielle Erlebnisse gesucht
Bis zu zwei Drittel der Rettungseinsätze am Berg gelten Menschen, die sich schlicht überschätzen. Im Urlaub wird das Risiko gesucht.

Die Kräfte schwinden. Die Knie werden weich. Die Trittsicherheit lässt nach. Dabei ist das eigentliche Ziel – der Gipfel, die Alm – längst erreicht. Es ist der Weg ins Tal, der zum Problem wird.

Rund 80 Prozent aller Wanderer, die sich in Österreichs Bergen verletzen, sind bereits im Abstieg. Stolpern und Ausrutschen und nicht der Absturz im Steilgelände ist mit 76 Prozent die Hauptursache für Wanderunfälle mit Verletzungsfolge.

Fehlende Fitness

Mit der richtigen Einschätzung des Eigenkönnens und körperlicher Fitness könnte sich nach Beurteilung des Kuratoriums für Alpine Sicherheit eine Vielzahl von Wanderunfällen vermeiden lassen. Das gilt auch für jene mit tödlichem Ausgang.

Jedem dritten dieser Unfälle geht ein banaler Stolperer oder Ausrutscher voraus. Nur Herz-Kreislauf-Versagen verursachen noch mehr tödliche Wanderunfälle. In beiden Fällen hält der Körper nicht mit den Anstrengungen Schritt.

Über dem Limit: Bis der Bergdoktor kommt

Es sind also nicht die klassischen alpinen Gefahren, die Freizeitsportler in den Bergen besonders oft in die Bredouille bringen. Es hapert oft schlicht an der notwendigen körperlichen Konstitution.

„Sicher ein Viertel bis ein Drittel unserer Einsätze ist darauf zurückzuführen, dass sich die Leute überschätzen“, sagt Hermann Spiegl, Landesleiter der Tiroler Bergretter. Und er weiß: „Die Rettung von Personen, die sich selbst über- und die Natur unterschätzen, ist ein riesiges Thema in ganz Österreich.“

Erschöpfungszustände

In Vorarlberg rückten Retter vor einer Woche alleine am Sonntag zu fünf Einsätzen aus, bei denen Wanderer und ein Radfahrer wegen Erschöpfungszuständen geborgen werden mussten.

Über dem Limit: Bis der Bergdoktor kommt

„Es gibt heute sehr viele Menschen, die sich über das gesunde Maß Belastungen aussetzen. Sie bewegen sich im Alltag wenig oder gar nicht und versuchen das dann im Urlaub aufzuholen“, sagt Helge Knigge.

Der Sportwissenschafter von der Deutschen Sporthochschule Köln verortet dieses Phänomen vor allem bei Städtern, die weitestgehend abgesichert leben: „Aufgrund der Erlebnislosigkeit im Alltag neigen wir dazu, in der Freizeit mehr Risiko einzugehen. Und ich fürchte, das wird schlimmer. Es werden existenzielle Wahrnehmungen gesucht.“

Eventisierung am Berg

Die Eventisierung in den Bergen erfüllt diese Bedürfnisse und befeuert damit auch die negativen Auswirkungen. 79 Sommerbergbahnen gibt es in Österreich inzwischen, die auf „Themenberge“ führen und dabei auch ungeübten Wanderern leichten Zugang zu hochalpinem Gelände bieten.

„Das sind Menschen, die dort eigentlich nicht hingehören, weil sie es sich nicht erarbeitet haben. Es fehlt an der Vorbereitung in Grundlagenbereichen – an Kraft, Ausdauer und Koordination“, lautet der Befund von Knigge.

Statussymbol Urlaub

Urlaub ist für viele Menschen längst nicht mehr die Suche nach der Erholung vom stressigen Alltag. Die Freizeitgesellschaft dürstet laut dem Sportwissenschafter auch nach Erlebnissen, um sich gegenüber anderen zu beweisen. Selfie inklusive. „Der Urlaub ist das neue Auto – ein Statussymbol“, sagt Knigge.

Über dem Limit: Bis der Bergdoktor kommt

Hermann Spiegel, Landesleiter der Tiroler Bergrettung, ortet Leistungsdruck im Urlaub

Die Reise in die Berge wird vom ersten bis zum letzten Tag mit Erlebnissen gefüllt. „Der Leistungsdruck im Alltag wird auf die Freizeit übertragen. Vor allem von unseren nördlichen Nachbarn hören wir bei Einsätzen: Ich musste das machen“, berichtet Bergretter Spiegl.

Sein Salzburger Kollege Balthasar Laireiter, Landesleiter der dortigen Bergrettung, bestätigt, dass Einsätze aufgrund von Erschöpfung zunehmen. Immer wieder sei es im vergangenen Jahr auch vorgekommen, dass Touristen die letzte Talfahrt der Seilbahn verpasst haben, es zu Fuß nicht mehr ins Tal schafften und von Bergrettern geholt werden mussten.

Die Vollkasko-Mentalität

Er und Spiegl sind sich einig, dass bei Bergurlaubern eine gewisse Vollkasko-Mentalität vorhanden ist. Das Sicherheitsnetz ist in Österreich mit Notarzthubschraubern und Bergrettern dicht gewoben. „Wir wissen von Tourismusforschern, dass es mittlerweile schon bei der Auswahl des Urlaubsziels miteinkalkuliert wird, wie gut dort die Absicherung ist“, erzählt Tirols Bergrettungschef.

„Im alpinen Bereich ist die Planung die wichtigste Voraussetzung für eine Tour“, sagt Laireiter. Genau damit nehmen es die Bergurlauber aber oft nicht so genau und bringen sich dadurch ebenfalls in Schwierigkeiten. „Jeder hat zwar ein Recht auf Risiko. Aber niemand hat ein Recht auf Rettung“, mahnt Spiegl.

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