Dokumentation: Auf dem Highway zur Hölle
Der Mensch ist auch ohne Auto überlebensfähig.
Diese Erkenntnis steht paradigmatisch über dem neuesten Werk des Wiener Kulturpublizisten („Wer baut Wien?“) und Raumplaners Reinhard Seiß, der mit seinem Dokumentarfilm „Der automobile Mensch“ einen umfassenden Beitrag zur Verkehrs- und Mobilitätswende leistet.
Denn ob der Homo automobilis wirklich noch ohne fahrbaren Untersatz überlebensfähig ist, ob der Zwang zum Pkw nicht vielmehr schon als Morbus automobilis bezeichnet werden kann – und was das alles mit jedem Einzelnen zu tun hat, dem hat sich Seiß in fast sechseinhalb Stunden Filmmaterial eingehend gewidmet. Am Dienstag (19.30 Uhr, Votiv Kino, Währinger Straße 12) wird Teil 1 des Film-Oeuvres bei freiem Eintritt und anschließender Diskussionen mit dem Autor gezeigt.
Wobei Seiß in seinem Film weniger CO2-Ausstoß und Klimawandel im Fokus hat, sondern das Auto per se – und alle damit verbundenen zerstörerischen Auswüchse. Das Elektroauto ist laut Seiß keine Lösung, sondern nur die Fortsetzung des Unheils.
Bissiger Unterton
Braunkohleabbau zur Verstromung, Landschafts(bild)zerstörung durch Windräder, riesige Solar-Plantagen auf den Feldern, dazu die monströsen Hochspannungsmasten – alles „Zeichen unserer nachhaltigen Zeit“, wie vom Sprecher des Films, dem bayrischen Kabarettisten Christian Springer, in durchgehend bissigem Unterton diagnostiziert wird. Beides könne man eben nicht haben – eine unversehrte Landschaft und uneingeschränkte Mobilität.
Wo also endet unsere Freiheit auf vier Rädern? Um dieser Frage nachzugehen, hat Seiß mit seiner Kamera in den vergangenen Jahren halb Österreich, Deutschland und die Schweiz abgeklappert, um der Freiheit auf vier Rädern, die immer auch auf Kosten der Freiheit jedes Einzelnen geht, nachzuspüren – aber auch, um Ausfahrten aus dem Teufelskreis(verkehr) anzubieten.
„In kaum einer Stadt ist die Tramway so langsam unterwegs wie in Wien – weil sie im Verkehr feststeckt.“
Nicht mit Zwang
Wobei er und die interviewten Experten (etwa Hermann Knoflacher) deutlich machen, dass es nicht mit Zwang und massiven Einschränkungen, sondern nur über ein offenkundig besseres Leben in zukunftstauglichen Städten und Dörfern funktionieren werde.
Ein Beispiel aus Österreich ist etwa Lienz, wo in der Vergangenheit das Zentrum mittels Fußgängerzone wiederbelebt wurde und nunmehr italienisches Flair versprühe. Oder Zermatt in der Schweiz, das grundsätzlich ohne Autos auskommt, stattdessen auf die Bahn und für wichtige Dienstleister auf E-Mobile mit maximal 20 km/h setzt. Oder Bremen in Deutschland, das seit Jahren die Straßen blockweise rückbaut, und wo Autos die breiten Radstreifen auch mitbenutzen dürfen (wobei die grüne Welle bei Radler-freundlichen 17 km/h liegt). Das Ende der urbanen Autogerechtigkeit, oder wie Seiß es nennt: „Weil Bremen es seinen Bürger und Besuchern zutraut, es auch ohne Auto ins Zentrum zu schaffen.“
Doch es sind oft nur lokale Erfolgsmodelle, die von zentralistischen und wirtschaftlichen Gegenstrategien – neue Autobahnen, Einkaufszentren und Gewerbegebiete auf der grünen Wiese – konterkariert werden. Selbst im Öffi-Dorado Schweiz fand Seiß einen besonderen Schildbürgerstreich: In einem kleinen Bergdorf musste eine Volksschule geschlossen werden, weil die Lehrerkosten zu hoch gewesen wären. Um den Transport der vielen Schüler in den Nachbarort zu erleichtern, soll nun eine neue Straße durch alpines Gelände gebaut werden. „Und warum? Weil das Geld dafür da ist.“
Reinhard Seiß, geboren 1970 in Oberösterreich, hat sich nach seinem Studium der Raumplanung an der TU Wien als prononcierter Publizist, der keine Konfrontation scheut, einen Namen gemacht.
Mit „Wer baut Wien?“ (2007) hat er in Buchform die Machenschaften der roten Baupolitik aufgedeckt, mit „Harry Glück. Wohnbauten“ (2014/2024; siehe Bild) dem großen Architekten ein Denkmal gesetzt. „Der automobile Mensch“ ist Seiß’ dritter großer Film.
Nächster Termin: 15. Oktober, 19.30 Uhr, Votiv Kino in Wien. Alle Informationen, weitere Termine und Bestellmöglichkeit der DVD online unter urbanplus.at
„Die Rumpelkammer“
Auch die Verkehrsprobleme in der Stadt Wien werden in eindrucksvollen Bildern aufgezeigt, und dem mit viel Werbemitteln propagierten „Vorzeigemodell in Sachen Verkehr, Umwelt und Klimaschutz“ die mitunter triste Realität für Radler, Fußgänger und Stadtbewohner gegenübergestellt. So sei das „Radfahren in dieser Stadt eine Zumutung“, der „Gehsteig die Rumpelkammer des Straßenraums“ und in kaum einer Stadt der Welt „die Tramway so langsam unterwegs wie in Wien – weil sie im Verkehr feststeckt“.
Auch wenn die Bilder von vor sich hinstauenden Autos beim Betrachter eine kontemplative Wirkung ausüben mögen und der tiefsinnige Witz der pointierten Kommentare zum Lachen verleiten mag – letztlich gefriert einem dieses. Denn am Ende sind wir es, die in diesen Autos sitzen, an diesen Straßen leben, die Abgase einatmen, den Verkehrslärm ertragen (müssen). Die „automobilen Menschen“ – das sind eben nicht die anderen.
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