Anosov kam aus der Sowjetunion und wurde am 27. August 1942 im Lager Liebenau in Graz registriert. Seine Meldekartei ist unter den 15.304 Karten, die vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung aufgearbeitet und digitalisiert wurden. Sie sind nun für Angehörige von Zwangsarbeitern und für wissenschaftliche Forschung zugänglich.
Erst 2016 wurde dieser Bestand in Graz entdeckt. „Zum ersten Mal können wir jetzt sagen: Wer waren die Menschen, was ist mit ihnen passiert, wie viele Kinder sind in den Lagern zur Welt gekommen?“, beschreibt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Boltzmann-Institutes. Dass es ab 1941 NS-Zwangsarbeiterlager in der Stadt gab, war bekannt. Bisher ging die Forschung nur von 30 Orten aus, an denen Opfer einquartiert wurden – durch die Meldedaten entdeckte man 700, darunter auch viele private Wohnungen.
"Aus der Erinnerung verdrängt"
Das lässt darauf schließen, dass Zwangsarbeiterinnen als Hausmädchen dienen mussten: Allein an der Adresse Grazer Hauptplatz waren sechs in unterschiedlichen Wohnungen gemeldet. „Es war ein flächendeckendes Netz, die Zwangsarbeiter waren omnipräsent, aber unsichtbar“, umreißt Stelzl-Marx. „Und nach 1945 wurden sie aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt.“
Erst rund um den Bau des Murkraftwerks in Puntigam 2017 gewann die Geschichte an Präsenz, da es in der Nähe des Lagers Liebenau errichtet wurde. 2020 wurde auf dem Areal eine Gedenktafel errichtet. Auch zu diesem dadurch bereits gut erforschten Lager brachten die Meldekarten neue Erkenntnisse: Es war mit bis zu zwei Drittel aller Opfer das größte der Stadt, diente aber auch als Ankunftslager, von dem aus die Menschen weitergeschickt wurden. Dort waren Opfer aus einem Dutzend Nationen interniert, die großteils als Hilfsarbeiter tätig sein mussten. Im Lager Murfeld – bis zu 1.000 Personen waren hier einquartiert – waren dagegen hauptsächlich Fachkräfte aus Italien.
150 Geburten im Lager
Aus den Meldedateien lassen sich Schicksale erahnen: Durchschnittlich blieb eine Person 236 Tage in einem Grazer Lager, ehe es zum nächsten weiterging. Die Menschen wurden in 190 Tätigkeitsfeldern eingesetzt, die meisten in der NS-Kriegswirtschaft. Ein Drittel der Opfer war zwischen 15 und 20 Jahre jung, 150 Kinder wurden nachweislich in den Lagern geboren. Auch 78 Todesfälle wurden offiziell verzeichnet.
Ivan Anosov überlebte. Er wurde erst von Liebenau nach Murfeld überstellt, eher er am 12. April 1944 in Baracke 101 erneut in Liebenau registriert wurde. Nach Kriegsende kehrte er in die UdSSR zurück.
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