Das Klimaticket im Praxistest: In 80 Stunden durch Österreich
Das Klimaticket feiert genau heute ersten Jahrestag – es war eine schwere Geburt. Eingeführt wurde es nach langem Hickhack (hier), der Ansturm war enorm. Um 80 Euro – so viel hat das Klimaticket im ersten Jahr pro Monat gekostet – kommt man mit dem Auto aus Wiener Neustadt gerade einmal nach Linz und zurück. Wiener Neustadt war auch der Ausgangspunkt für diese Reise.
Die Idee
Vor ein paar Wochen ist mir das Buch „Netzkarte“ von Stan Nadolny in die Hände gefallen. Der Protagonist Ole Reuter fährt durch Deutschland und erzählt, was ihm widerfährt. Dazu passt auch Jules Vernes’ „In 80 Tagen um die Welt“. Da war es, mein Geschenk an das Klimaticket: In 80 Stunden durch Österreich. Allerdings ohne wie Phileas Fogg mein halbes Vermögen bei einer Wette aufs Spiel zu setzen.
Tag 1 - von Wiener Neustadt nach Feldkirch
Montag, 11 Uhr, Wr. Neustadt. Mein täglicher Arbeitsweg führt mich von Wiener Neustadt nach Wien, in die Redaktion des KURIER. Stammstrecke der ÖBB, dazu U6 und U4. Oder – dank Klimaticket um nur 30 Cent pro halber Stunde – oft mit dem Leihrad von Wien Mobil entlang des Donaukanals von Wien Landstraße bis Heiligenstadt. Oder ab der Niederhofstraße, wenn die U-Bahn einmal steht. Soll vorkommen, hört man.
Die Radabstellplätze in Wiener Neustadt sind voll, die Pendlerzüge sowieso, oft auch der Speisewagen. Manchmal ist der mit besonders vielen Sitzplätzen ausgestattet. Und mit schönen, weißen Tischtüchern. Zeit zum Lesen, Zeit zum Arbeiten. Nicht immer, eine liebe Journalistenkollegin und ein früherer Schulkollege sitzen am Tisch. So ist Pendeln, Leute treffen einander und reden.
Seit ich das Klimaticket habe, gibt es für mich Wien nur noch mit den Öffis. Laut Bahntest des Verkehrsclubs nutzen 38 Prozent die Bahn viel häufiger, 32 Prozent häufiger, seit sie das Klimaticket haben. Und – welch Überraschung – niemand seltener. Für 64 Prozent der Befragten hatte das Klimaticket „einen sehr großen Einfluss“, auf die Bahn umzusteigen.
In der Redaktion angekommen, erledige ich die letzten Formalitäten. Und buche einen Platz im Sitzwagen im Euronight 40462 Richtung Zürich. Kostet 14 Euro extra nach Feldkirch, Liegewagen 34 Euro, der Schlafwagen ist ausgebucht. Ohne Klimaticket würde die Karte mit Sparschiene 59,90 Euro kosten, kurzfristig sogar 99 Euro.
Davor noch zwei Termine in der Stadt – am Landesgericht und in der Innenstadt. Am Nachmittag geht sich sogar noch ein Abstecher ins Burgenland aus: 40 Minuten dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof nach Neusiedl am See, ans Meer der Wiener. Um 12,20 Euro, auch ohne Klimaticket ein Schnäppchen. Und Zug statt Auto trägt dazu bei, dass dieses „Meer“ nicht dem Klimawandel zum Opfer fällt und austrocknet.
Wie es sich für einen Pendler gehört, bin ich am Abend wieder zu Hause, ehe es auf die lange Reise geht. Rechtzeitig breche ich auf, um am Hauptbahnhof den Zug nicht zu verpassen.
Montag, 23.27 Uhr, Wien. Alle sind auf Bahnsteig 8, nur der Zug nicht. 70, dann 80, schließlich 90 Minuten Verspätung. „Der Grund ist eine Verzögerung in einem Nachbarland.“ Das kann ich schon nicht mehr hören.
Einzig ein indisches Lokal hat am Hauptbahnhof noch offen, ein Ottakringer hilft über die Zeit.
Am Bahnhof erzählt mir ein Mittdreißiger aus Wien ungefragt, warum er mit seiner Mutter nach Zürich fährt: „Ich hatte Köch mit Frau. Muss ich Obstaund halten.“ Klingt nach Streit. Die Wartebereiche sind voll mit Flüchtlingen. „Hier gibt es keine Arbeit, wir wollen in die Schweiz, nach Italien oder Frankreich“, erzählen sie mit ein paar Brocken Englisch.
Dienstag, 0.30 Uhr, Wien. Der Wind bläst kalt, am Bahnsteig ist es ungemütlich. Phileas Fogg, ein Exzentriker in Sachen Pünktlichkeit, hätte auch keine Freude gehabt.
0.45 Uhr, immer noch Wien. Endlich. Wir steigen ein. Platz 15 in Waggon 419 ist für mich reserviert. Erster Halt: Meidling. Helle Aufregung, zig Flüchtlinge drängen in den vollen Zug. Dann nochmals 40. Irgendwie finden der Schweizer Schaffner und ein Sicherheitsmann für fast alle einen Platz.
Wir fahren. Das grelle Licht im Waggon bleibt an. Die ganze Fahrt, die ganze Nacht. Hinter meinem Fensterplatz kracht die automatische Türe mit voller Wucht gegen den Rahmen. Alle paar Minuten. An Schlaf ist nicht zu denken. Die Luft wird immer stickiger. Wir haben mit dem Zug dieselben Probleme wie Phileas Fogg. Seinerzeit waren es Bisons und Sioux-Indianer, die das Gleis blockierten und den Zug überfielen, vor Linz ist es einfach eine Weichenstörung. Eineinhalb Stunden lang.
4.11 Uhr. Wels. Laut Fahrplan hätten wir um 1.14 in Wels sein sollen. Eigentlich sind nur die Zahlen verdreht. Die Augen brennen, die ÖBB-App sagt 2.23 Stunden Verspätung. Ich wundere mich nur und schlafe endlich, erst bis Salzburg, dann bis Hall. Der Sonnenaufgang, der die Nordkette bei Innsbruck in ein goldenes, warmes, weiches Licht taucht, entschädigt sogar für diese Nacht.
Tag 2 - Feldkirch - Bangs - Feldkirch - Salzburg - Untersberg - Salzburg - Spittal
9.30 Uhr, Feldkirch. Mit fast drei Stunden Verspätung erreichen wir Feldkirch. Melanie von der Vorarlberger Bäckerei Mangold macht mir einen Kaffee am Bahnhof. Draußen wartet Willi Bernardin auf mich. Ehrlicherweise wartet er auf alle, die mit dem Stadtbus der Linie 4 von Vorarlberg mobil mitfahren wollen. Er ist seit 24 Jahren Busfahrer, aber nach Wien, zu seiner Tochter, fährt er mit dem Klimaticket.
Ein Busfahrer erzählt
Wenn er mit den Leuten an der Station redet, verstehe ich kein Wort, er wünscht „an Guaden“ und fährt weiter. Nach Bangs, der westlichsten Gemeinde Österreichs. Die Schweizer Berge vor uns beschreibt der passionierte Fotograf in den schillerndsten Farben.
Die Verspätung im Nachtzug wirkt sich auf meine Reise aus. Nach Salzburg fahre ich daher direkt retour, statt bei Wörgl über Kirchberg, Kitzbühel, Zell am See und Bischofshofen durch die Tiroler und Salzburger Bergwelt zu gondeln. Schade drum.
6.600 Züge verkehren täglich auf 5.000 Kilometern Schiene durch Österreich, 260 Millionen Fahrgäste, 110 Millionen Tonnen Güter. Die Österreicher gehören zu den fleißigsten Bahnfahrern Europas – 1.505 Kilometer pro Person und Jahr. Für 2021 weist die Statistik 97 Prozent Pünktlichkeit aus. Das würde Phileas Fogg freuen und ist der Beleg, dass die eigene Wahrnehmung mit der Realität nicht übereinstimmt. Oder die Züge eben vor allem dann verspätet sind, wenn man selber drinnen ist.
Zwischen Landeck und Innsbruck fahren fast nur Studenten, ich komme mit zwei Südtirolerinnen, einer Deutschen und einer Ukrainerin ins Gespräch. Sie studieren in Österreich Regionalentwicklung, sind zufriedene Klimaticket-Nutzerinnen: „Die günstigste und schnellste Variante, 40 Minuten von Landeck nach Innsbruck, schneller als jedes Auto.“ Nur heute früh haben sie sich geärgert. Der Schnellzug aus Wien ist nämlich nicht gekommen. Ich weiß.
Die Studenten steigen in Innsbruck aus, ich fahre bis Salzburg.
Nach einem Abstecher mit dem Bus zum Untersberg – 35 Minuten mit der Linie 25 – Abendessen am Bahnhof in Salzburg. Keine Bänke. Ich setze mich zu einem Mann auf einen Betonblock, esse mein Kebab, wir plaudern über den „Bürgermeister vom Bahnhofsplatz“, der vor kurzem verstorben ist.
„Er war der Großvater der Obdachlosen- und Tranklerszene“, weiß Didi, so heißt der Mann, und erklärt mir die Berge, die Steige auf den Untersberg, die wasserbetriebene Materialseilbahn auf die Festung, und erzählt von der Geschichte der Stadt, mit persönlichen Anekdoten garniert. Er ist selbst gerade obdachlos geworden und kämpft sich zurück. Ein fester Händedruck, ein klarer Blick. Er schafft das, der Didi.
Ich fahre über die Tauernschleuse nach Spittal-Millstätter See. Ende 2024 wird der Tauerntunnel für acht Monate gesperrt. Eine Katastrophe für die Pendler. Zwei Stunden mit dem Auto statt elf Minuten im Zug. Schienenersatzverkehr wegen Bauarbeiten steht bei den ÖBB auf der Tagesordnung. 19 Milliarden Euro investieren sie in den kommenden fünf Jahren. Und das ist dringend nötig, wissen die Pendlerinnen und Pendler, nicht nur im Großraum Wien. Klagen über volle Züge, über zu wenig Plätze sind überall zu hören, wenn ein Ballungsraum in der Nähe ist.
Der Bahnhof heißt Spittal-Millstätter See, obwohl es zum See ganz schön weit ist. Dort habe ich schon vor 30 Jahren Halt gemacht, als ich mit der Rabbit Card das erste Mal durch Österreich gefahren bin. Mit der Karte konnte man innerhalb von zehn Tagen an vier mit dem Zug fahren – eine kleine Schwester von Interrail.
Tag 3 - Spittal - Leoben - Bad Ischl - Linz
Mittwoch, 8.32 Uhr, Spittal. Die Morgensonne taucht das Drautaul in ein herbstlich goldenes Licht, die letzten Frühnebel hängen über der Drau, die in der Sonne glitzert. Bahnfahren gibt so viele schöne Blicke frei.
Ich wäre gerne über Klagenfurt nach Graz gefahren, das wird mit dem Koralmtunnel besser, dann noch der Semmeringtunnel. Meilensteine für den öffentlichen Verkehr. Wobei die Semmeringbahn die Zeit, die man länger braucht, allemal wert ist. Aber das ist eine andere Strecke.
Arbeiten im Zugbetrieb
Vor mir das Ausseer Land. Christine und Faride bedienen die Gäste im Bordrestaurant. Die Plätze sind besetzt, ein Mann kommt mit der Familie, bestellt Schartner Bombe, zwei Gösser, Kaffee. „Danke, Onkel Hansi“, sagt einer seiner Begleiter. Neben mir fachsimpeln zwei Bundesheerler mit einem Lienzer, der nach Wien fährt, über die Kaserne in seiner Heimat. Einer war dort stationiert, sie teilen Erinnerungen.
Es ist Herbst, und doch bin ich in der Sommerfrische gelandet. Grimming, Dachstein, Krippenstein, Loser. Bad Mitterndorf, Bad Aussee, Hallstatt, Bad Goisern, Bad Ischl. Kulturhauptstadt 2024.
Ursula Höll aus Obertraun wünscht sich nicht nur für 2024 mehr Zugverbindungen.
Am Traunsee entlang fährt der REX4415 Richtung Linz, gerade noch den Traunstein im Blick, sind die Berge nach einem Tunnel einfach weg. Oberösterreich, Zentralraum, flaches Land, Betriebe, der Flughafen Hörsching, Linz.
Abendessen beim Leberkäs-Pepi. Der Mann in der langen Schlange vor mir bestellt sich „eine vui dicke Scheib’n Bratl-Leberkäs“ und bekommt sie auch. Vui dick. In der Bierkanzlei gegenüber gibt es vui vü Bier – wer ein Seiderl bestellt, bekommt heute ein Krügerl zum selben Preis, ob er will oder nicht.
Tag 4 - Linz - Enns - Mauthausen - Freistadt - Gmünd - Krems - Wiener Neustadt
Donnerstag, 7.00 Uhr, Linz. Alle drängen in die volle Straßenbahn, obwohl die nächste schon wartet. Diese ist leer, Mozartkreuzung, Bürgerstraße, Goethekreuzung, niemand steigt zu. Dafür ist der Leberkäs-Pepi wieder voll. Ein Rollstuhlfahrer redet mich an, Gerald Propst, er betreibt ein Repair-Cafe in Kirchberg-Thening, erzählt mir seine Lebensgeschichte.
Wir verplaudern uns, er verpasst den verspäteten Zug deshalb erst wieder – weil dieser nicht ganz so viel Verspätung hat und Rollstuhleinstiegshilfe vom Aufzug aus genau am anderen Ende des Bahnsteigs liegt. „Normalerweise funktioniert das super“, ist Propst gar nicht gram und wartet auf den nächsten Zug, der in 20 Minuten kommt.
Meine nächsten Ziele sind Enns und Mauthausen, die älteste Stadt Österreichs und das Mahnmal zu den dunkelsten Stunden unserer Geschichte. Öffentlich gut erreichbar.
Zurück in Linz nehme ich den Bus 312 nach Freistadt. Im städtischen Umfeld ist der Bus voll, bald werden die Fahrgäste weniger. Studentin Johanna hat das Klimaticket, fährt aber nur zwei Mal pro Woche mit dem Bus: „Wenn ich das Auto nehme, kann ich 35 Minuten länger schlafen.“ Der Bus bleibt (gefühlt) bei jedem Haus stehen.
Busbahnhof Linz
Bauernladen Freistadt
Jause in Freistadt
Ein großes Problem wird hier virulent. Die Versorgung des weiten Landes mit öffentlichem Verkehr. Verfügbarkeit spielt eine Rolle, dazu der Zeitfaktor, die Entfernung. Auch natürlich Gewohnheit und Bequemlichkeit. Der aktuelle Ausbaustand zwingt viele ins Auto. Sehr viele. Der ländliche Raum braucht neue, andere Ideen.
Eine Stunde Wartezeit in Freistadt. Mit dem 758 nach Gmünd. 33 Stationen auf 60 Kilometern. Mit fünf anderen Fahrgästen zuckle ich dann durchs schöne Waldviertel bis Krems, mitten durch den Stausee Ottenstein. Ich habe ja Zeit. Durch die Weingärten nach Heiligenstadt. Meine Stammstrecke nach Hause. Es ist Donnerstag, 19 Uhr. In 80 Stunden durch das Land, geschafft. Und ein bissl geschafft.
Fazit
Wette habe ich keine gewonnen. Aber Erfahrung, aus vielen Begegnungen und Gesprächen, Land und Leute kennengelernt. Und die Überzeugung: Das Klimaticket ist eine gute Sache. Auch wenn bei Weitem nicht alles gut ist.
Rechnung
Der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) hat die Ersparnis im Vergleich zum Auto auf klassischen Pendel-Strecken ausgerechnet –
mit eindeutigem Ergebnis. Mehr als
3.000 Euro jährlich
bringt der Umstieg auf die Öffis mit dem jeweiligen regionalen Klimaticket beispielsweise auf den Strecken Amstetten–St. Pölten, Leoben– Graz, Kufstein–Innsbruck oder Vöcklabruck–Linz. Auf der Strecke Neusiedl– Wien sind es immer noch rund 1.900 Euro und auf der Strecke Villach– Klagenfurt fast 1.500 Euro
Wünsche
Ganz oben auf der Wunschliste der Kunden laut VCÖ-Bahntest: Kürzere Reisezeiten, häufigere Verbindungen und bessere Bahnhofsanbindungen
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