Es war wohl die schnellste Ermittlung zur Absturzursache eines Passagierflugzeugs, die es jemals gab. Statt der üblichen Monate oder sogar Jahre, konnte die französische Staatsanwaltschaft bereits nach 49 Stunden verkünden: Am 24. März 2015 hatte Co-Pilot Andreas Lubitz einen Airbus der deutschen Germanwings auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in selbstmörderischer Absicht gegen einen Berg in Südfrankreich gelenkt.
Die Welt war geschockt. Lubitz wurde im Boulevard als Monster und Massenmörder bezeichnet. Die Ermittlungen bestätigten schließlich die Theorie der Justiz.
Zum zehnten Jahrestag wird es erneut hoch hergehen, denn vielleicht war das damalige Urteil zu voreilig. In achtjähriger Arbeit hat ein Team aus internationalen Luftfahrtexperten unter Führung des österreichischen Fachjournalisten Simon Hradecky Hinweise gefunden, dass alles tatsächlich ganz anders gewesen sein könnte.
Dafür wurden 21.000 Seiten Ermittlungsakten neu aufgearbeitet, Tests in Flugsimulatoren durchgeführt und hochmathematische Berechnungen durchgeführt.
Das Fazit des Teams nach der umfangreichen Recherche: Lubitz war vermutlich gar nicht selbst im Cockpit. Und die Ursache für den Absturz war wohl eine ganz andere.
Präsentiert werden die Ergebnisse, die international gehörige Wellen schlagen werden, kommende Woche in einer dreiteiligen Sky-Serie sowie im Aviation Herald und einem 700-seitigen Buch ("Germanwings: Die Untersuchung"). Der KURIER konnte schon vorab Einblick nehmen.
Dabei werden zahlreiche Indizien aufgelistet, warum eigentlich der Kapitän am Steuer gesessen haben könnte. Darunter etwa folgende: Im Einschlagkrater seien nur Überreste des Piloten Patrick Sondenheimer aber keine des ersten Offiziers Lubitz gefunden worden.
Wie kann das sein, dass der Pilot (vermutlich durch die Windschutzscheibe) geschleudert wird, wenn er nicht im Cockpit saß, und der angeblich dort sitzende Lubitz nicht?
Auch hätten die Sitze links und rechts beim Start vertauscht werden müssen, was unüblich wäre, berichten die Experten. Zudem wurde Hinweisen, dass die aufgezeichnete Stimme im Cockpit eigentlich dem Kapitän gehörte, angeblich nicht einmal nachgegangen.
Klären könnten das wohl Handyvideos, denn irgendwelche Passagiere hätten sicher gefilmt, wenn einer der Piloten wie wild an die Cockpittür hämmert und alle Alarme im Flugzeug aufheulen. Laut Hradecky befindet sich aber keine Auswertung der Mobiltelefone im Justizakt. Und Angehörige berichten, dass sie die Mobiltelefone der Opfer mit professionell gelöschtem Datenspeicher bekommen haben.
Wenn tatsächlich nicht ein Suizid-Pilot am Steuer saß, was könnte dann passiert sein?
Experten weisen in der TV-Dokumentation daraufhin, dass es speziell zu dieser Zeit viele so genannte "Fume Events" gab. Das bedeutet, dass giftige Dämpfe in ein Flugzeug dringen und Personen mitunter sogar handlungsunfähig machen.
Die genauen Ursachen dafür sind bis heute unklar, da sich die zuständigen Untersuchungsstellen oftmals weigern, dieses heiße Eisen anzufassen und zu ermitteln. Vermutet wird Triebwerksöl als Auslöser. Das aerotoxische Syndrom wäre zumindest eine theoretische Möglichkeit für die Handlungsunfähigkeit des Mannes am Steuer.
Bis heute ist außerdem unklar, warum der Pilot von außen gegen die Tür hämmerte, aber nicht ins Cockpit gelangen konnte. Seit den Anschlägen vom 11. September kann die verriegelte Tür von außen mit einem Notfallcode geöffnet werden. Laut dem deutschen Fachjournalisten Tim van Beveren hatte sich eine Crew des betroffenen Jets einige Flüge zuvor aus dem Cockpit ausgesperrt und musste einen Techniker rufen, der einen Defekt beim Eingabegerät für den Code festgestellt haben soll. Kaputt war demnach die Zahl zwei, die für die Eingabe des Codes erforderlich war. Allerdings gibt es dafür keinen gerichtsfesten Beweis.
Ein interessantes Detail aber: Laut den Experten findet sich der oftmals geschilderte Satz "Andreas, mach die Tür auf" nirgendwo im Ermittlungsakt.
Wurde er vielleicht niemals gesagt?
Stimmen die Erkenntnisse des Untersuchungsteams, dann wäre die tatsächliche Absturzursache offen. Doch auch dafür präsentiert die Hradecky-Gruppe eine mögliche Lösung. In dem Airbus sind zwei Computer verbaut, die die Flughöhe steuern. Fällt bei einem davon die Sicherung, dann schaltet das andere Gerät offenbar automatisch auf eine Flughöhe von 100 Fuß (30 Meter). Das zumindest zeigt ein Versuch, den man in der dreiteiligen Doku sieht.
Und: Laut Untersuchungsbericht war genau diese Höhe im Germanwings-Airbus eingestellt.
Dafür spreche auch, dass in dem Abschlussdokument zu lesen ist, dass die Einstellung der Flughöhe laut Aufzeichnungen nur eine Sekunde gedauert haben soll. Ein Pilot versuchte mehrfach, dies in einem Flugsimulator nachzustellen. Er schaffte es allerdings nie unter zwei Sekunden, da ein Rad mehrfach gedreht und dies auch noch bestätigt werden muss.
Hradecky und sein Expertenteam möchten nun eine Sachverhaltsdarstellung bei mehreren internationalen Stellen einbringen. Die Gruppe und mehrere Angehörige fordern neue Ermittlungen zur Klärung der Absturzursache.
Elmar Giemulla, Professor für Luftfahrtrecht an der TU Berlin, meint jedenfalls dazu: "Ein Teil der Wahrheit ist verborgen worden."
Bei der Germanwings-Mutter Lufthansa sieht man das anders: "Wir haben keinerlei Zweifel am Ergebnis der Untersuchung des Bureaus d'enquêtes et d'analyses pour la sécurité de l'aviation civile (BEA). Schon aus Respekt vor den Hinterbliebenen möchten wir diese alternative Theorien – ,neue Erkenntnisse' können wir nicht erkennen - nicht kommentieren."
Airbus und die französischen Ermittler wollten auf Anfragen von KURIER bzw. Sky keine Stellungnahme abgeben.
Im Internet gibt es zahlreiche Luftfahrtportale im deutschsprachigen Raum, doch nicht alle arbeiten nach journalistischen Grundsätzen. Neben dem Aero-Telegraph oder Aviation-Direct ist vor allem der (englischsprachige) Aviation Herald aus Salzburg eine seriöse Informationsquelle für die Branche. Dort erscheint nur, was von einer offiziellen oder zwei inoffiziellen Stellen bestätigt wird.
Gegründet wurde der "avHerald" vom Softwareentwickler Simon Hradecky im Jahr 2008. Monatlich hat die Webseite mehrere Millionen Besucher, sie gilt als eine der wichtigsten Seiten weltweit, oft geben Piloten und Angestellte von Airlines in den Kommentaren interessante Einblicke in die Luftfahrt. Behandelt werden ausschließlich Vorfälle und Unfälle im Flugverkehr. Aktuell sind rund 30.000 Artikel online.
In der Causa Germanwings unterstützen Hradecky, über dessen Expertisen sogar schon von CNN berichtet wurde, deshalb zahlreiche anerkannte Experten, wobei alle aus Furcht vor Konsequenzen im Berufsleben anonym bleiben wollen beziehungsweise sogar müssen.
Dem KURIER sind Teile des Teams bekannt. Betont wird, dass alle Fachleute ohne Bezahlung mitgearbeitet haben.
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