„Anwälte, Ärzte, Firmenchefs: Absturz kann jeden treffen“
Hier kommen viele Teufel durch die Wände und auch aus den Steckdosen. Das macht die Schizophrenie“, erklärt Psychotherapeut Ernst Achleitner, Geschäftsführer des Linzer Sozialvereins B37, beim Durchschreiten des Wohnheimes in der Bethlehemstraße 37. Rund 125 Menschen leben hier – die meisten haben psychische Erkrankungen und massive Suchtprobleme, vor allem mit Alkohol. Bis 1988 war das Haus eine Außenstelle der Heilsarmee, mit Massenschlafsälen für Obdachlose und vielen Polizeieinsätzen.
Achleitner, seit 23 Jahren Leiter des Vereins, hat die Einrichtung in eine anerkannte und professionelle psychosoziale Nachsorgeinstitution verwandelt. Schritt für Schritt wurden drei weitere Gebäude akquiriert und das Angebot, je nach Bedarf der Zielgruppen, von der Alkoholikerberatung bis zur Notschlafstelle, ausgebaut. Derzeit hat der selbstständige Verein, mit naher Anbindung zur Stadt Linz, insgesamt rund 300 stationäre Klienten. Dazu kommen 150 Menschen, die man mobil betreut. Obdachlosigkeit ist dabei längst kein Gespenst mehr. Eine Zeit lang war der Sozialverein B37 in der Fremdenverkehrsstatistik der Stadt Linz gelistet und wurde dort mit mehr als 140.000 Nächtigungen pro Jahr als das größte Beherbergungsunternehmen angeführt – und der Bedarf steigt. Finanziert wird der Verein über den Pflichtleistungsbereich „Psychisch Krank und Sucht“ des Landes OÖ.
Absturz meistens durch Alkohol
Das Bild vom stereotypen „Sandler“ mit zerschlissener Kleidung trifft in der Bethlehemstraße nur auf die wenigsten zu. „Viele sind sogar besser angezogen als ich“, sagt Achleitner. „Bei uns sind reichste Unternehmer verstorben. Wir haben Restaurantbesitzer mit mehreren Lokalen in Linz, Universitätsprofessoren, Diplomingenieure und Rechtsanwälte gehabt. Ich selbst bin Sachverwalter einer ehemaligen Finanzbeamtin.“ Auch der Fußballstar „Chicio“ Carlos Lima, Mitglied der LASK-Meistermannschaft 1965, sei in der Bethlehemstraße heimgegangen. Man sollte daher sehr vorsichtig sein, mit der Behauptung „mich trifft das nicht“.
Es bedürfe oft nur kleiner organischer Veränderungen im Gehirn und es könne gemeinsam mit der Droge Alkohol zu Kettenreaktionen kommen, die sehr schnell gehen und jeden treffen können, vor allem wenn man eine genetische Vorbelastung hat.
Seit 25 Jahren therapiert Achleitner Alkoholiker. Mehr als die Hälfte davon sind Akademiker. „Wir haben in Österreich mehr als 300.000 schwerste Trinker. Das Schlimme ist, dass Alkohol überall anerkannt ist. Wenn ich bei Vorträgen Bier als Droge bezeichne, dann sind die Leute oft entsetzt.“ Alkohol kenne keine Grenzen und mache keine Unterschiede. „Die einen saufen billigen Wein im Park, die anderen verstecken ihren Edel-Cognac in der Schreibtischschublade ihrer Büros.“
Ein Drittel schafft den Absprung
Ein Drittel der Bewohner der Bethlehemstaße schafft den Absprung nach draußen. Wichtig in der Begleitung seien realistische Zielvorgaben und ein geregelter Tagesablauf. „Wenn sich die Leute eine Frau, ein kleines Haus samt Hund und eine nette Arbeit vornehmen, dann wird das in den meisten Fällen nichts. Ein Wunsch kann einen auch erdrücken“, erläutert Heimleiter Thomas Wögrath, der seit 1997 im Verein tätig ist. Bewohner zahlen zwischen 135 und 150 Euro pro Monat, sogenannte „Nutzungsgebühren“. Neben essen und schlafen werden die Menschen durch zahlreiche professionelle Sozialarbeiter aber auch von Gesundheitspsychologen, Neurologen und Altenpflegern begleitet. Pro Woche werden viereinhalbtausend Einzeldosen Medikamente ausgegeben. Wenn man nichts verlangen würde, dann bekäme man die Menschen hier nie wieder hinaus.
„Zahlreiche Leute verlassen unsere Einrichtung aber gar nicht mehr, weil sie einfach schon zu alt sind.“ Wie beispielsweise Charlotte: Seit zehn Jahren ist die ehemalige Kellnerin hier. Sie sitzt die meiste Zeit im Aufenthaltsraum. „Mir gefällt es und ich bleibe hier, bis ich nimmer bin“, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette. Für alle gelte aber als wichtigstes Prinzip, die Selbstständigkeit so weit wie nur möglich zu erhalten und zu fördern.
Über zwei Promille kein Zutritt
Anders als in der B37-Einrichtung ALOA (Aktiv leben ohne Alkohol), in der eine absolut trockene Atmosphäre herrscht, gibt es in der Bethlehemstraße eine Alkoholgrenze von zwei Promille. Man müsse die Leute hier anfangs so nehmen, wie sie sind, um etwas verändern zu können. „Für Spiegeltrinker sind zwei Promille fast zum Verhungern“, sagt Achleitner. Kontrolliert wird mit einem Alkomaten, wie ihn die Polizei verwendet – wer darüber ist, dürfe nicht ins Heim. Die Bewohner übernehmen dadurch wenigstens ein Stück weit die Kontrolle über ihr Verhalten. „Oft kommt eine Person, hat 2,4 Promille und wird sich bewusst, dass sie nicht mehr weitertrinken darf, weil ihr wohnen und schlafen in der Nacht zu wertvoll sind.“ Daneben gibt es einige Bewohner, die gar nichts trinken dürfen. Man hätte beispielsweise geistig abnorme Rechtsbrecher, für die per Gerichtsbeschluss null Komma null Pflicht sind.
Weniger Spitalsaufenthalte
Einige der Bewohner leben in ihren eigenen Realitäten, schildert Wögrath. „Wir hatten einmal eine Baustelle unten an der Straße. Einer unserer Klienten hat geglaubt, die Erde reißt auf und hat die Hölle kommen sehen. Da hat er gleich sein Zimmer angezündet.“ Schwierig seien auch Sammler, sogenannte „Messies“. „Die Füllen ein perfekt geputztes Zimmer innerhalb von zwei Tagen an“, sagt Wögrath. Natürlich gebe es auch sehr viele Bewohner, bei denen es einem ganz einfach „warm ums Herz“ wird. Es seien oft schräge Vögel, die nicht so angepasst sind. Generell würden sich die Klinikaufenthalte bei den Menschen, die man hier begleite, gewaltig reduzieren. Das nütze sowohl den Betroffenen, als auch dem Gesundheitssystem.
Im Rahmen der mobilen Betreuung muss ein Großteil der Wohnungen vom Verein angemietet werden, da viele durch Überschuldung keinen Strombezug mehr bekommen oder auf „schwarzen Listen“ stehen. „Wir garantieren hier, dass der Vermieter sein Geld bekommt“, sagt Achleitner. Um die laut aktueller Statistik rund 60 „akut Wohnungslosen“ auf der Straße und am Bahnhof in Linz kümmert sich der Streetwork-Dienst. Man sei bundesweit der einzige Verein, der Streetwork im Erwachsenenbereich anbietet, ist Achleitner stolz. Die Menschen erhalten über die Streetworker eine ärztliche Versorgung und eine Meldeadresse. Mit Letzterer haben sie einen Anspruch auf Mindestsicherung oder auf eine Pension. Im Winter organisiere man Schuhe, Winterjacken und Schlafsäcke.
Woran es mangle? „Vor allem an Spenden“, sagt Achleitner. Für Logopädie-Stunden, Zahnersatz, Kindersachen, Brillen – es gäbe nicht alles auf Krankenschein. Vor allem junge Menschen, die wieder auf dem Weg nach oben seien, hätten riesige Probleme, wenn sie zum Vorstellungsgespräch mit einer verfaulten Zahnreihe gehen. Auch für Essensspenden mit möglichst langer Haltbarkeit sei man dankbar. Insgesamt beschäftigt der Sozialverein B37, der heuer sein 25-Jahr-Jubiläum feiert, 106 Mitarbeiter. Spenden und Infos unter www.b37.at
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