Anna Jermolaewa beobachtet, erzählt, stellt infrage – kritisch und gleichzeitig humorvoll, oft in Videos und Installationen. Im Linzer Schlossmuseum ist derzeit mit „NUMBER TWO“ die bisher größte Werkschau der Künstlerin zu sehen. Jermolaewa ist gebürtige Russin, flüchtete als junge Frau und lebt seit 1989 in Österreich. Seit 2018 ist die 52-Jährige Professorin für Experimentelle Gestaltung an der Linzer Kunstuniversität.
„In meinen Arbeiten geht es immer um die conditio humana, um das Zusammenleben in all seinen verschiedenen Aspekten. Dabei spielt Musik eine große Rolle, auch als Sprache des gewaltlosen Widerstands“, sagt Jermolaewa. Diese Sprache nimmt die Künstlerin in ihrer aktuellen Arbeit „Singing Revolution“ auf, für die sie im Sommer nach Estland, Lettland und Litauen reiste, um dort Chöre aufzunehmen, die Befreiungslieder vorsingen. Die Videos laufen auf drei großen Bildschirmen zeitversetzt ab, die Stimmen transportieren Kraft, Bedrückung und Trauer als eine intensive Mischung.
„Es soll nicht um mich gehen, aber ich arbeite natürlich mit Themen, bei denen ich mich auskenne“. Wie etwa mit dem Gefühl, kein Zuhause zu haben. Nach ihrer Ankunft in Wien lebte und schlief Jermolaewa eine Woche auf einer Bank am Wiener Westbahnhof. Ihre Erfahrungen hat sie im Video „Searching for Sleeping Positions“ aufleben lassen.
Zur Kritik am öffentlichen Raum gehört die aktuelle Arbeit „Hostile Architecture“: Öffentliche Bereiche werden mit Stacheln und Ziernägeln versehen, um vor allem Obdachlose fernzuhalten. „Ich habe die Aufnahmen in London gemacht. Aber ich habe diese Vorrichtungen mittlerweile auch in Linz gesehen.“
Vom Krieg betroffen
'Als der Krieg begonnen hat, dachte ich, Putin ist verrückt geworden. Es war schrecklich. Ich habe im ersten halben Jahr des Krieges keine Kunst mehr gemacht, sondern mich nur noch um Flüchtlinge gekümmert', erzählt Anna Jermolaewa. Sie sei selbst mit einem Ukrainer verheiratet gewesen, ihre Tochter sei halbe Ukrainerin, 'es hat mir das Herz zerrissen.'
Hintergrund
1970 in St. Petersburg geboren, war Anna Jermolaewa seit ihrem 17. Lebensjahr in dissidentischen Kreisen aktiv. Sie war Mitbegründerin der ersten Oppositionspartei und Mitherausgeberin einer regimekritischen Zeitung.
1989 kam es regelmäßig zu Hausdurchsuchungen und anderen Repressalien. Jermolaewa flüchtete über Polen nach Wien und erhielt in Österreich politisches Asyl. Sie lebt in Wien, ist aber derzeit oft in Oberösterreich
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