„Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun“

„Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun“
Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker Jean Ziegler über den weltweiten Hunger, den Ukraine-Krieg und die Macht der Demokratie

Heute, Sonntag, 11. 9., eröffnet Jean Ziegler mit seiner Rede das Internationale Brucknerfest in Linz. Im KURIER-Interview erklärt der 88-Jährige, wofür er kämpft, warum die Schweiz von „Banken regiert wird“ und warum er die Hoffnung auf eine bessere Welt ohne Hunger nicht aufgibt.

KURIER: Herr Ziegler, was sind derzeit weltweit die akutesten Brennpunkte, den Hunger betreffend?

Jean Ziegler: Die sichtbaren Hungersnöte, die bei Krieg, Naturkatastrophen, usw. eine Wirtschaft zerstören, ohne dass jemand eingreifen kann, nennt man konjunkturellen Hunger. Viel schlimmer ist der strukturelle Hunger, der sich in den unterentwickelten Produktionskräften eines Landes zeigt. Das ist das stille, unsichtbare Hungern. Sie fragen mich nach den Hungersnöten. Die schlimmsten wüten gerade im Südsudan, im Jemen, in Somalia und in Darfur. Da sterben im Moment die meisten Menschen. Aber jeden Tag verhungert alle fünf Sekunden ein Kind.

Der Kampf gegen den weltweiten Hunger ist ja unter anderem ein politischer. Der Großteil der Bevölkerung ist nicht in Positionen mit politischer Verantwortung. Was kann die Supermarktverkäuferin, der Lehrer oder die Busfahrerin machen?

Es gibt dazu eine generelle Aussage: Österreich ist eine echte Demokratie. Es ist wahrscheinlich die lebendigste Demokratie unseres Kontinents. In der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Eine Regierung kann dazu gezwungen werden, Dinge zu tun, die das Volk will. Kommen wir zu den Ursachen des Hungers, darunter etwa die Auslandsverschuldung der ärmsten Länder. Diese Verschuldung ermöglicht es afrikanischen Ländern nicht, minimale Investitionen in die Landwirtschaft zu tätigen. Diese Auslandsschulden müssen gestrichen werden. Der österreichische Finanzminister kann von der öffentlichen Meinung dazu gezwungen werden, im Gouverneursrat des Weltwährungsfonds für die Streichung dieser Auslandsschulden zu stimmen. Die Börsespekulationen auf Grundnahrungsmittel bringen astronomische Spekulationsprofite für die Großbanken, treiben aber die Preise für Nahrungsmittel ständig in die Höhe. Das Börsegesetz kann geändert werden. Der Nationalrat kann Spekulation auf Grundnahrungsmittel verbieten.

„Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun“

Frau in Somalia vor dem Grab ihrer Enkelkinder, die verhungert sind

Es ist also politischer Aktivismus gefordert?

Es ist ein Aufstand des Gewissens gefordert. In einer Demokratie zu sagen, man kann nichts tun, das ist falsch. Die verschiedenen Ursachen des Hungers können durch Strukturreformen eliminiert werden.

Ist das auch eine Wissens- und Bildungsfrage?

Jeder weiß, dass das Massaker des Hungers menschengemacht ist. Als Beispiel: Der World Food Report zeigt, dass jeder elfte Mensch auf der Welt schwer unterernährt ist. Dieselbe Organisation sagt, dass die Weltlandwirtschaft problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also gut vier Milliarden mehr als derzeit auf der Erde leben. Es gibt keinen objektiven Mangel. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Diese Evidenz kennt jeder heute, es gibt also keine Entschuldigung, nichts zu tun.

Wer kontrolliert denn die Nahrungskette?

Heute kontrollieren die zweihundert größten Konzerne der Agrarindustrie rund ein Viertel der globalen Lebensmittelerzeugung. In der Regel erwirtschaften diese Unternehmen astronomische Gewinne. De facto haben sie ein Monopol auf die gesamte Nahrungskette, angefangen bei der Erzeugung über den Transport, die Silohaltung, die Verarbeitung und Vermarktung bis hin zum Einzelvertrieb der Produkte. Die Giganten der Lebensmittelindustrie kontrollieren nicht nur die Preisbildung und den Handel, sondern wichtige Bereiche der Agroindustrie, vor allem Saatgut, Dünger, Pestizide, Lagerung, Transport . Sie haben eine einzige Strategie: Profitmaximierung. Ihnen muss man das Menschenrecht auf Nahrung entgegensetzen. Der Zugang zur Nahrung hängt heute von der Kaufkraft der Konsumenten ab. Wer Geld hat, isst und lebt. Wer kein Geld hat, leidet Hunger und stirbt. Diese kannibalische Weltordnung muss zerstört und ersetzt werden durch eine Welt, in der der Zugang zu Nahrung normativ und gesetzlich geregelt wird.

„Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun“

Im Sudan stehen Frauen um Lebensmittel an

Auf der letzten Geberkonferenz für das Welternährungsprogramm im März bewilligten die Industriestaaten knappe vier statt der geforderten 22 Milliarden Dollar? Welche Konsequenzen hat das?

Aufgrund des Vernichtungskrieges, den der Massenmörder Putin gegen das ukrainische Volk führt, kann die Ukraine ihr Getreide nicht mehr an die Länder in Afrika verkaufen. Die Ukraine ist weltweit der zweitgrößte Getreideexporteur: Die FAO (Food and Agriculture Organization, eine Spezialorganisation der UNO für Ernährung und Landwirtschaft) veröffentlichte unlängst eine Gesamteinschätzung der Lage. Danach importierten im letzten Jahr 45 Länder aus Afrika und dem Mittleren Osten mindestens ein Drittel ihres Getreides aus der Ukraine. Aufgrund des Krieges und dieses Ausfalls der 21 Mio. Tonnen Getreide aus der Ukraine werden die Hungersnöte fürchterlich steigen. Das Welternährungsprogramm hat letztes Jahr 91 Millionen Menschen ernährt. Diese Hilfe muss jetzt gesteigert werden, weil sehr viel mehr Millionen Menschen in den Abgrund des Hungers stürzen werden. Wir müssen Druck machen auf unsere Regierungen, damit diese massiv ihre Beiträge an das World Food Programme erhöhen. Was uns von den Opfern trennt, ist nur der Zufall des Orts unserer Geburt.

„Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun“

Im Zuge des Ukrainekrieges steht ja oft die Schweiz in der Kritik, dass sich russische Oligarchen dort weiterhin Wohnungen kaufen und Bankkonten eröffnen können.

Das ist beschämend. Die Tatsache, dass die Oligarchen weiterhin unbehelligt ihre kriminellen Geschäfte von der Schweiz aus machen, ist ein totaler Skandal.

Die russischen Pussy-Riot-Aktivistinnen wurden kürzlich in der Schweiz verhaftet, weil sie mit einem Graffiti auf den Ukrainekrieg aufmerksam machen wollten.

Unsere Regierung ist in vielerlei Hinsicht eine Söldner-Regierung, ist komplett kolonisiert von der Banken-Oligarchie. Die Banken regieren die Schweiz, nicht die Regierung. Die Schweiz ist weitgehend eine Scheindemokratie.

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