"Hitlers ideologische Selbstfindung"

Christian Hartmann zerpflückte jeden Satz von Hitlers „Mein Kampf“. Am Aschermittwoch gastiert er auf Schloss Puchberg.
Historiker Christian Hartmann über ein "Buch, das man nicht frei herumvagabundieren lassen sollte".

Christian Hartmann (56) arbeitet am Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin. 2012 übernahm der Historiker die Leitung der rund 2000 Seiten umfassenden kritischen Edition von Adolf Hitlers "Mein Kampf", die im Jänner erschienen ist.

KURIER: Die Rechte des Freistaats Bayern an Hitlers "Mein Kampf" sind Ende 2015 nach 70 Jahren erloschen. Was bedeutet das konkret?

Christian Hartmann: Dafür gibt es einen juristischen Begriff, der lautet gemeinfrei. "Mein Kampf" kann von jedem nachgedruckt werden, so wie etwa ein Text von Schiller oder Goethe. Bisher wurde das Copyright von der bayerischen Staatsregierung zurecht dazu benützt, eine Verbreitung zu verhindern.

Wer "Mein Kampf" unkommentiert verbreitet, macht sich aber möglicherweise wegen Verhetzung strafbar.

Das ist fraglich. Eine Beurteilung möchte ich der Justiz überlassen.

Worin sehen Sie die Gefahren einer unkommentierten Verbreitung?

Das Buch ist eine Art ideologische Selbstfindung Hitlers. Es enthält viele Botschaften, die eine Ideologie verherrlichen, die in eine einzige Katastrophe geführt hat, nicht nur für uns Deutsche und Österreicher, sondern für die gesamte Menschheit. Dass man so einen Text nicht frei herumvagabundieren lassen sollte, liegt nahe.

Die ersten 4000 Exemplare der kritischen Edition waren am ersten Tag weg. Überrascht Sie der Erfolg?

In dieser Form schon. Wir wussten, dass die Edition eine hohe symbolische Bedeutung hat. Es gab ein großes Medienecho, aber dass es ein solches Interesse geben würde, damit habe ich nicht gerechnet.

Es gibt wenige, die "Mein Kampf" gelesen haben, auch wenn irgendwo am Dachboden ein Exemplar versteckt ist. Den Titel kennt jeder, über den Inhalt weiß man halbwegs Bescheid. Wer hat dieses Buch wirklich gelesen?

Hitler hat mit "Mein Kampf" die NSDAP und ihre Ideologie neu erfunden. Gleichzeitig hat ihm das Buch auch den Titel des Schriftstellers eingebracht, was für ihn in München als Stadt der Künste wichtig war. Die Leser kamen erst später.

Im Dritten Reich wurde "Mein Kampf" dann zu einer Art Bibel des Nationalsozialismus verklärt. Man hat alles versucht, um es unter das Volk zu bringen. Bekannt ist die Geschenkaktion in den Standesämtern. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat die U.S. Army zwei Untersuchungen mit mehreren Tausend Deutschen durchgeführt. Sieben bis neun Prozent gaben an, "Mein Kampf" ganz gelesen zu haben, 20 Prozent hatten es teilweise gelesen. Das heißt, es hatte eine Millionenleserschaft. Es war trotzdem nicht das "Buch der Deutschen", wie es in der Propaganda hieß.

Die NSDAP und Hitler haben mit "Mein Kampf" viel Geld gemacht.

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Hitler hat sehr gut verdient, ab 1933 bekam er zehn Prozent Tantiemen. Das Buch war eine Geldbeschaffungsmaschine.

Es gab auch Gegner Ihrer Publikation. Jeremy Adler (Sohn des Schriftstellers H. G. Adler, bekannt für seine Studien über die Juden im KZ Theresienstadt, Anm.) sagt, dass hier trotz Kommentierung ein "rechtswidriges Werk" veröffentlicht worden sei.

Adler spricht von einem verbrecherischen Text, den man nicht edieren dürfe. Wenn man das ernst nehmen würde, hieße das in letzter Konsequenz, dass wir uns nicht wissenschaftlichen mit Dingen beschäftigen dürfen, die uns aus welchen Gründen auch immer nicht gefallen. Das hieße, dass die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts allesamt Tabuthemen wären, dass man keinen Zugang zu den öffentlichen Quellen mehr hätte.

Man kann vor diesen Aspekten unseres Lebens nicht die Augen verschließen. Die Frage ist, wie geht man so etwas an. Es ist ja nicht so, als ob es das Buch vorher nicht gegeben hätte. "Mein Kampf" ist weit verbreitet. Es gibt viele antiquarische Ausgaben, der englische Nachdruck war ohnehin erlaubt, es gibt illegale Nachdrucke in allen Sprachen und es gibt das Internet. Unsere Edition ist zum ersten Mal der Versuch, Seite für Seite und Satz für Satz kritisch zu beleuchten. Eine Alternative dazu sehe ich nicht.

Hitler gilt als brillanter Demagoge, vor allem als Redner. Wie gefährlich ist er als Schriftsteller?

Hitler hatte selbst Zweifel an seiner schriftstellerischen Begabung. Schon im Vorwort spricht er vom Zauber des gesprochenen Worts.

Sehen Sie eine literarische Qualität?

Das Buch liest sich da noch am besten, wo er von sich erzählt. Das betrifft die Zeit in Wien, die Zeit im Krieg, seine Anfänge in München. Das hat eine gewisse erzählerische Qualität. Ganz schlimm wird es, wenn er versucht, sich als Philosoph oder Erfinder einer neuen Ideologie darzustellen. Da wird es wirklich erbärmlich.

Hitler schrieb den ersten Teil von "Mein Kampf" während seiner neunmonatigen Haft in Landsberg am Lech im Jahr 1924. Woher nahm er die Energie?

Hitler ist sehr viel Sympathie entgegengeschlagen, er hatte viele Freiheiten. Andererseits war sein Putschversuch eine völlige Niederlage, ihm drohte ein Redeverbot und sogar eine Ausweisung nach Österreich. Die Situation war für ihn alles andere als einfach. Trotzdem gelang es Hitler, sich quasi selbst aus dem Sumpf zu ziehen.

Sie haben in einem Interview gesagt, Hitler sei kein Psychopath gewesen.

Hitler hatte psychiatrische Auffälligkeiten. Aber er war nicht der Verrückte; von Thomas Mann gibt es ja den Essay "Bruder Hitler". Er war also, flapsig formuliert, einer von uns. Er hatte eine enorme emotionale Kälte, psychologisches Geschick, Fanatismus, demagogisches Können. Wobei er unter normalen Umständen nicht zum Zug gekommen wäre. Entscheidend waren die Krisen, zunächst Ende des Ersten Weltkriegs und dann Ende der 1920er, Anfang der 1930er.

Hitler ist auch 71 Jahre nach seinem Tod omnipräsent. Im Fernsehen, in Büchern, im Kino hieß es zuletzt "Er ist wieder da". Schenkt man ihm zu viel Aufmerksamkeit?

Die Frage ist, wem man Aufmerksamkeit schenkt. Hitler oder dem, was er verursacht hat. Hitler allein erklärt die Sache nur zum Teil. Es sind auch die Gesellschaften, die ihn geprägt haben, die seine Vorstellungen umgesetzt haben.

Wenn man selbstkritisch ist, ist Hitler für die Deutschen gewissermaßen eine Garantie, dass es so weitergeht wie bisher, dass wir uns auch weiterhin mehr um uns als um die Weltpolitik kümmern können. Das Zögern der Deutschen in Hinblick auf eine internationale Verantwortung hat auch mit dieser Fixierung auf Hitler zu tun. In diesem Punkt würde ich mir wünschen, dass wir aus Hitlers Schatten heraustreten würden und uns mehr darum kümmern, was auf dieser Welt passiert.

Angesichts der Flüchtlingskrise befürchten manche, die Geschichte könnte sich wiederholen.

Es gibt gewisse Schnittstellen zwischen dem, was sich momentan in Europa formiert, und der NSDAP. Die Voraussetzungen aber sind ganz anders. Was wir heute erleben, ist eher defensiv. Die Flüchtlinge kommen zu uns, dann erst reagieren die europäischen Gesellschaften und es gibt einen Rechtsruck. Damals wurde imperialistisch gedacht. Ich sehe keine rechtsradikalen Parteien, die Lebensraum im Osten erobern wollen oder Ausrottungspläne haben gegenüber Juden oder Muslimen.

Feindbilder und Hetze gibt es trotzdem, gerade im Internet.

Ja, da muss man auch aufpassen. Aber es ist reaktiv, defensiv. Damals war es offensiv. Es gab den Nazi-Slogan "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt". Die Situation bei uns könnte noch viel dramatischer sein, davon sind wir zum Glück noch weit entfernt.

Veranstaltungshinweis: Christian Hartmann gastiert am 10. Februar auf Einladung der Antifa und des Mauthausen Komitees im Bildungshaus Schloss Puchberg bei Wels (20 Uhr, Eintritt 10 Euro, Schüler, Studenten und Bedürftige frei). Gemeinsam mit Mitautor Thomas Vordermayer wird Hartmann beim "Politischen Aschermittwoch" die kritische Edition von "Mein Kampf" präsentieren. Bereits um 19 Uhr findet eine Aschermittwochs-Liturgie mit Fastenpredigt statt.

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