Das nie abgepfiffene EM-Finale

Shakehands vor dem Anpfiff zum EM-Finale 1972. Das österreichische Trio – Schiedsrichter Ferdinand Marschall, Josef Jegel (li.) und Erich Linemayr (re.) – mit den Mannschaftskapitänen Murtas Churzilawa (li.) und Franz Beckenbauer (re.)
Beim Endspiel 1972 in Brüssel standen mit Ferdl Marschall und Erich Linemayr zwei Oberösterreicher auf dem Platz, zwei saßen auf der Tribüne. Von Gerhard Marschall.

Italien und England werden heute Abend im Londoner Wembley-Stadion untereinander ausspielen, wer sich bis 2024 Fußball-Europameister nennen darf. Es ist das 16. EM-Finale, die Italiener haben es bisher einmal gewonnen, die Engländer noch nie. So viel steht jedenfalls fest: Es wird einen Sieger und einen Verlierer geben.

EM seit 1960

Die Europameisterschaft gibt es seit 1960, Nummer vier wurde 1972 in Belgien ausgetragen. Damals war nicht alles besser, anders halt. Das Turnier war noch keine so aufgeblähte Veranstaltung wie heute. Das Fernsehen war gerade einmal färbig geworden und musste noch nicht zwischen Werbezeiten mit Tausenden Minuten Fußball gefüttert werden. Vier Teams hatten sich für die Endrunde qualifiziert. Die Sowjetunion gewann gegen Ungarn 1:0, Deutschland gegen Belgien 2:1. Die Sieger standen im Finale, die Verlierer spielten Platz drei aus, den sich die Gastgeber mit einem 2:1 sicherten. Vier Mannschaften, vier Spiele – mehr brauchte es damals nicht, um Europas bestes Nationalteam zu ermitteln. Das geschah am 18. Juni, einem strahlenden Sommertag, im Brüsseler Heysel-Stadion. Das Atomium vis-à-vis glänzte in der Sonne. Geleitet wurde das Spiel von einem österreichischen Trio: Schiedsrichter Ferdinand Marschall aus Waldzell (Bez. Ried), ihm zur Seite der Linzer Erich Linemayr und der Tiroler Josef Jegel. Sie hießen damals noch nicht Assistenten, sondern schlicht Linienrichter. Ihr Job war derselbe wie heute.

Das nie abgepfiffene EM-Finale

Die Zuschauer warteten an den Seitenlinien auf den Abpfiff

43.000 Zuschauer waren zur Stelle, unter ihnen zwei Innviertler. Einige Schulkollegen aus Ried waren nach der Matura Richtung Holland aufgebrochen, eine Fraktion fuhr nach London weiter. Mein Freund und jahrelanger Banknachbar Günther „Guda“ Blechinger und ich zweigten nach Brüssel ab. Erstens gibt es nicht so oft ein Finale zu sehen, bei dem zweitens noch dazu der Schiedsrichter-Vater im Einsatz ist. Für ihn war das nach der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko finaler Karrierehöhepunkt. Deutschland war gegen die Sowjetunion haushoher Favorit und wurde den Erwartungen vollauf gerecht. Zweimal Gerd Müller und einmal Herbert „Hacki“ Wimmer sorgten für ein klares 3:0. Es war das laut Expertenurteil die beste deutsche Mannschaft aller Zeiten, besser sogar als jene, die zwei Jahre später die Weltmeisterschaft gewinnen sollte.

Über die Barrikarden

Die Begeisterung der deutschen Fans war riesig und schäumte zunehmend über. Schließlich stiegen sie über die Barrikaden, standen dicht gedrängt an den Seitenlinien und harrten dort dem Spielende entgegen. Es ging zu wie bei einem Lokalderby auf einem Dorfplatz. Deutschlands Torhüter Sepp Maier versuchte sie schimpfend und wild fuchtelnd zurückzuscheuchen, ein Spielabbruch hätte den schon sicheren Titelgewinn gefährdet.

Kein Halten mehr

Ein Foulpfiff im Mittelfeld wurde sodann als Schlusspfiff missverstanden, es gab kein Halten mehr. Tausende stürmten auf das Feld. Dem Schiedsrichter blieb nichts übrig, als den Ball zu schnappen und mit seinen zwei Kollegen in die Kabine zu flüchten. Somit wurde das EM-Finale 1972 offiziell nicht abgepfiffen, Protest wurde dagegen nicht eingelegt. In dem ganzen Wirbel ging alles einigermaßen friedlich zu Ende – anders als 13 Jahre später an derselben Stätte.

Massenpanik 1985

1985 kam es vor dem Anpfiff zum Endspiel um den Europapokal der Landesmeister zwischen Juventus Turin und Liverpool im total veralteten Heysel-Stadion zu einer Massenpanik. Englische Fans waren in den italienischen Sektor gestürmt, die Bilanz: 39 Tote und einige Hundert zum Teil schwer Verletzte. Nach einer noch größeren Katastrophe 1989 im englischen Sheffield mit 96 Toten wurden die Sicherheitsbestimmungen in den Stadien verschärft. Es kam das Ende des Stehplatzes. Der Referee bekam damals bei größeren, internationalen Spielen den Ball als Erinnerungsstück. So gab es daheim in Waldzell auch einen schneeweißen Ball, den der große Johan Cruyff von Ajax Amsterdam in einem Europacupspiel im tschechischen Trnava gestreichelt hatte. Irgendwann konnten wir das schöne Ding erbetteln. Wir bildeten uns ein, damit auf Anhieb um Klassen besser zu kicken als mit den damals gängigen braunen Wuchteln, die bald unrund wurden und bei Regen schon einmal ein paar Kilo wogen.

Marschall wurde Funktionäre

Ferdinand Marschall beendete 1972 seine aktive Karriere und wurde Funktionär. Josef Jegel pfiff bis 1975 in der Bundesliga. Erich Linemayr stieg zu Österreichs Nummer-1-Referee auf, war bei gleich zwei Weltmeisterschaften im Einsatz. 1974 leitete er unter anderem das als „Wasserschlacht von Frankfurt“ bezeichnete Match Deutschland – Polen (1:0), das wegen eines Wolkenbruchs kurz vor Anpfiff mit Verspätung begann und dann unter widrigsten Verhältnisse ablief.

Linemayrs Karriere

1978 wiederum hatte Linemayr beste Chancen auf die Leitung des Endspiels. Weil jedoch Landsmann Ernst Happel die Niederländer coachte, kam er nur an der Linie zum Einsatz. Die Argentinier gewannen in der Verlängerung 3:1. Bei der EM 1980 leitete Linemayr das damals zum letzten Mal ausgetragene Spiel um Platz 3, das die Tschechoslowakei gegen Gastgeber Italien im Elfmeterschießen 9:8 gewann.

Ball im Fußballmuseum Dortmund

Ein letztes Mal: Damals wurde mit ein- und demselben Ball durchgespielt, lag noch nicht wie heute rund um den Platz jede Menge Ersatz parat, der den Spielern unentwegt zugeworfen wird, um keine Zeit zu verlieren. Der Matchball war damals ein Original. Jenes von Brüssel 1972, veredelt mit den Unterschriften von DFB-Bundestrainer Helmut Schön, Gerd Müller und anderen Finalkickern, ruht im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.

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