"In Wahrheit will sie keiner"
Adnan Sehic stellt sich ans Rednerpult, atmet tief ein und sagt: "Beginnen wir mit etwas sehr Unschönem." Sehic, 29 Jahre alt, ist ein großgewachsener, kräftiger Mann. Wenn er dort oben auf der Bühne am vorderen Ende des Saales steht, dann strahlt er eine Strenge aus. Wer etwas Zeit mit Adnan Sehic verbringt, wird aber erkennen, dass diese Strenge nicht zu seinem Wesen gehört. Er zieht sie sich über wie einen Mantel, wann immer er sie braucht.
Das Problem mit den Sonnenblumenkernen
"Ich habe bemerkt, dass einige von euch gerne Sonnenblumenkerne essen", sagt Sehic, und Achmad, der neben ihm steht, wiederholt den Satz auf Afghanisch. Vor der Bühne reihen sich Tische und Stühle eng aneinander, dutzende Bubengesichter starren gebannt auf die beiden. "Das ist grundsätzlich kein Problem, aber ihr könnt die Schalen nicht einfach auf den Boden spucken", sagt Sehic mit ernster Stimme. Er hält kurz ein und in den Sekunden der Stille ahnt man bereits, dass nun eine Mahnung folgen wird: "Sonst gibt es Sonnenblumenkernen-Verbot."
Adnan Sehic steht jetzt jeden Donnerstagnachmittag hinter diesem Rednerpult, das sich im Erdgeschoss eines ehemaligen Hotels befindet. Seit dem Tag Anfang Februar, als 45 Burschen hier einzogen und Sehic der Heimleiter wurde, beruft er einmal wöchentlich eine Versammlung ein.
Der Raum ist voller müder Gesichter, Ellbogen stützen auf Tischplatten, Köpfe liegen in Handflächen. Die Jugendlichen, die Trainingshosen und Badeschlapfen tragen, sind nicht von hier. Zu Hause, das war für manche einmal Syrien, für die meisten Afghanistan, jetzt soll es eine Gemeinde im Wienerwald werden. Fünf Kilometer westlich der Hauptstadtgrenze, knapp 4.900 Einwohner: Gablitz, Niederösterreich.
8.000 unbegleitete Minderjährige haben um Asyl angesucht
Manche sind vor zwei Monaten gekommen, andere vor drei, sie kamen mit Booten, Bussen, zu Fuß, viele trugen blutige Bilder in ihren Köpfen. Jeder nahm eine andere, eigene Geschichte mit, alle aber kamen allein. Ohne Eltern, ohne Tanten oder Onkel sind sie nach Österreich geflüchtet. Einige haben noch Familie in ihrer Heimat, andere nicht. Manche wissen es nicht. Die Jüngsten sind 14, die ältesten 17 Jahre alt. Sie heißen Ahmed, Mehmet, Amir, Farid, Karim. Der Staat Österreich führt sie unter der Bezeichnung "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge". Oder kürzer: UMFs.
Im Jahr 2015 haben insgesamt rund 8.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich um Asyl angesucht. Dreiviertel davon kommen aus Afghanistan oder Syrien. Wie alle anderen Flüchtlinge werden auch sie – sobald sie zum Asylverfahren zugelassen werden – in die Grundversorgung aufgenommen. Im Gegensatz zu Erwachsenen erhalten UMFs jedoch eine umfangreichere Versorgung, einen höheren Tagessatz - 95 Euro Tagessatz plus 40 Euro Taschengeld im Monat -, werden rund um die Uhr betreut, kommen in Einrichtungen wie jene hier in Gablitz.
Zuständig für die Grundversorgung sind die einzelnen Bundesländer, sie haben Verträge mit Vereinen und Organisationen abgeschlossen, mit der Caritas etwa oder den SOS-Kinderdörfern, die sich um die Betreuung in den Wohnheimen kümmern.
Die Sache mit den Ameisen
Für die Einrichtung in Gablitz ist der gemeinnützige Verein menschen.leben zuständig. Österreichweit betreut er fünfzehn solcher Einrichtungen und rund 320 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Adnan Sehic ist bei menschen.leben angestellt, so wie Achmad, der Dolmetscher, und die restlichen dreizehn Mitarbeiter im Heim. Ihre Gehälter werden von den Tagessätzen der Flüchtlinge abgezogen, genauso wie die Heizkosten, der Strom – der komplette Betrieb wird so finanziert.
"Kommen wir zum nächsten Punkt", sagt Sehic, der immer noch auf der Bühne steht. Seit einer halben Stunde zählt er auf, was alles nicht gut läuft im Haus: Die Schalen der Sonnenblumenkerne, die Ameisen in den Zimmern, weil die Burschen dort Essen gehortet haben. Die Medikamente, die sie kürzer einnahmen, als der Arzt sie verschrieben hatte. "Nur weil es nicht mehr weh tut, heißt das nicht, dass ihr gesund seid", sagt Sehic. Oder die Medikamente, die sie ihren Freunden im Heim weitergegeben haben, weil die auch Schmerzen hatten. "Ihr könnt nicht einfach irgendwelche Tabletten einem anderen geben. Das könnt ihr dann, wenn ihr selbst Medizin studiert habt. Aber nicht jetzt! Jetzt könnt ihr damit jemanden töten!" Oder die Arzttermine am Morgen, zu denen sie nicht auftauchten. "Ihr müsst keine Angst haben, ihr bekommt in der Schule keine Probleme, weil ihr beim Arzt ward."
Was kostet ein Red Bull?
Existenzielles verschwimmt hier mit Alltäglichem. Die Burschen auf diesen Stühlen flohen vor Krieg und Verfolgung, jetzt haben sie Termine mit Anwälten und Gerichten, ihr Asylstatus ist noch ungeklärt, alles ist unsicher. Zugleich versuchen sie in eine Normalität zu schlüpfen, in einen geregelten Ablauf zu kommen, sie erstellen Putzpläne, lernen Mathe und Deutsch und dass sie beim Einkaufen darauf achten sollen, dass eine Dose Red Bull mehr kostet als ein halber Kilo Nudeln. Sie lernen, wie sich die Leute hier verhalten und wie sie sich verhalten sollen. Wie geht es meiner Familie, meinen Geschwistern?, fragen sie sich selbst. Was wollt ihr einmal werden? Wie stellt ihr euch eure Zukunft vor? Solche Fragen bekommen sie gestellt. Dabei können sie noch nicht einmal das Jetzt erfassen.
Gegen Ende der Heimversammlung streift Sehic die Strenge ab und etwas Sanftes, Gutmütiges tritt stattdessen in sein Gesicht. Und als dann auch noch die Wolkendecke für ein paar Momente lang aufbricht und warmes Sonnenlicht den Raum erhellt, hat das nichts Kitschiges an sich. Etwas Rührseliges hat es und es ist stimmig.
Es riecht nicht gut
Sehic verspricht sich darum zu kümmern, dass die Jungs im Fußballverein der Gemeinde mittrainieren können, und dass sie im Raum neben dem Festsaal, in dem jetzt noch staubige Stühle stapeln, ein Wohnzimmer für sie einrichten. Jeder kann sich einbringen und überlegen, was er gerne hätte, sagt Sehic, ein Sofa, einen Fernseher vielleicht. Dann dürfen die Burschen selbst noch Fragen stellen, und das läuft so: Aufzeigen, sobald sie drankommen aufstehen, Frage stellen, hinsetzen.
"Werden wir einen Fernseher bekommen, bevor die Fußballweltmeisterschaft beginnt?"
"In unserem Zimmer ist das Klo kaputt und es riecht nicht gut."
"Wenn ich zurück nach Afghanistan will, brauche ich dann eine grüne Karte?"
"Können wir Zimmerpartner tauschen? Meiner riecht nicht gut."
"Der Busfahrer hat schlimme Dinge über uns gesagt und wollte uns wieder nicht mitnehmen. Warum?"
Es gibt zu wenige Schulplätze
Diejenigen, die noch schulpflichtig sind, bekamen einen Schulplatz bereitgestellt, das ist gesetzlich so verankert, auch ein paar andere sind bereits in einer Schule untergekommen, insgesamt aber nur 15 von den 45 Burschen. Und das ist ein Problem. Weil gerade die Schule ein wichtiger Ort für die Jugendlichen ist, um sich in die Gesellschaft einzufinden. "Es gibt einfach viel zu wenige Schulplätze", sagt Clemens Wiesinger. Wiesinger teilt sich mit Sehic das Büro und ist neben ihm der pädagogische Leiter im Flüchtlingsheim. Er gibt selbst Deutschkurse und kümmert sich um alle anderen schulischen Belange. "Ich habe sogar schon beim Wiener Stadtschulrat angerufen, aber die Kapazitäten sind zurzeit ziemlich ausgeschöpft." Solange sie in keine Schule gehen können, versuchen die Betreuer im Heim das Wichtigste abzudecken.
Grundsätzlich läuft die Betreuung in verschiedenen Phasen ab. Die Pädagogen und Helfer versuchen langsam herauszufinden, wer diese Burschen sind, woher sie kommen, wie ihre Geschichten lauten, was sie wollen vom Leben. Wichtig sei aber, dass man hier nicht nach vorne presche, sagt Sehic. Wenn die 14-jährigen Burschen davon träumen einmal Fußballstar zu werden, dann lächelt er sie zustimmend an. "Ich will ihnen das jetzt noch lassen", sagt er. "Die werden mit genug Dingen konfrontiert, mit denen Kinder niemals konfrontiert werden sollten." Viele Jugendliche brauchen psychologische Unterstützung, die der Verein menschen.leben für sie organisiert, er ist auch der offizielle rechtliche Vertreter der Minderjährigen.
Das Gekeife aus der Anonymität
Neben all der Schwere versuchen die Helfer Leichtigkeit in den Alltag zu bringen. So etwas wie Normalität. Sofern es die Spendenmittel zulassen, organisieren sie Ausflüge, am Wochenende veranstalten sie Spielenachmittage, zu denen auch die restlichen Gablitzer eingeladen sind. "Wir haben großes Glück", sagt Wiesinger, "hier gibt es wirklich einige sehr engagierte und hilfsbereite Menschen." Aber natürlich gebe es auch negative Stimmen.
Sehic versteht, dass es Menschen gibt, die Sorgen haben. Es gebe Sorgen, die berechtigt sind, sagt er, für die es Argumente gibt. Was ihn aber ärgert, "ist dieses Gekeife aus der Anonymität heraus. Und dieses völlige Desinteresse einmal herzukommen und uns zu konfrontieren.“ Sehic sagt, es ginge gar nicht darum, alle Vorbehalte aus dem Raum zu schaffen. "Es reicht mir, wenn diese Menschen zumindest wissen, was sie kritisieren und worüber sie reden."
Sobald die Burschen achtzehn Jahre alt werden, müssen sie die Einrichtung verlassen und kommen in die Grundversorgung für Erwachsene. "Aber da passiert natürlich nichts von einem Tag auf den anderen", sagt Clemens Wiesinger. Über Monate werden sie auf den Auszug vorbereitet und bei der Wohnungssuche unterstützt. Ihr großes Ziel sei, sagt Sehic, "dass diejenigen, die hier weggehen, Menschen sind, die sich im Land zurechtfinden. Die selbstbestimmt sind." Natürlich müssten dafür auch die Rahmenbedingungen geschaffen werden. "Wenn der rauskommt und ihm keine Chance gegeben wird, dann können wir sagen, was wir wollen." Es hänge auch von politischen Entscheidungen ab, die sie nicht beeinflussen könnten. "Und sind wir uns ehrlich", sagt Adnan Sehic zum Schluss. "In Wahrheit will sie dort keiner."
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