SOS-Kinderdorf: Das Leben als Berufsmutter
Tagwache ist für Esther Weiß bereits im Morgengrauen. Das muss sein, denn fünf Kinder kriechen nicht von alleine aus dem warmen Bett. "In der Früh ist es ein bisschen eine Herausforderung", erzählt sie lachend. "Inzwischen schaffen wir es aber schon, in einer Stunde fertig zu sein."
Weiß ist 29 Jahre alt. Die zwei Buben und drei Mädchen im Alter zwischen drei und zehn Jahren sind aber nicht ihre leiblichen Kinder. Weiß ist SOS-Kinderdorf-Mutter in der Hinterbrühl – die jüngste in Österreich.
Insgesamt betreuen 60 Frauen als Sozialpädagoginnen Familien in den zehn Kinderdörfern. Kinderdorf-Väter gibt es derzeit keine. Neue Mitarbeiter werden dringend gesucht. "In Wien und Niederösterreich brauchen wir zehn neue Mütter in den nächsten fünf Jahren", sagt Susanne Schönmayr. "Allein in der Hinterbrühl gehen in den nächsten Jahren fünf Frauen in Pension." Kinderdorf-Väter, die als männliche Bezugspersonen derzeit oft fehlen, sind mehr als willkommen.
Die Anforderungen sind hoch: Nach der Ausbildung zum Sozialpädagogen müssen sie zudem ein Jahr lang in einer Kinderdorf-Familie mitarbeiten. Ihren Lebensmittelpunkt verlegen die Frauen (und Männer) in die Kinderdörfer. Maximal fünf Pflegekinder werden einer Mutter oder einem Vater anvertraut. Unterstützt werden die Familien von Familienpädagogen, auch hier gibt es kaum männliche Mitarbeiter.
Für die 34-jährige Andrea Kamir stand der Umzug ins SOS-Kinderdorf Hinterbrühl im Dezember am Programm. "Es ist eine Familiengründung", beschreibt es die Quereinsteigerin. Nervös sei sie gewesen, gesteht sie.
Was viele vielleicht abschreckt, erleben Weiß und Kamir als Bereicherung: Einen Job zu haben, bei dem man Zeit hat, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen. "Je mehr Zeit man mit ihnen hat, desto besser und entspannter läuft die Betreuung", erzählt Weiß. Denn natürlich würden die Kinder einen Rucksack voller Sorgen mitbringen. Die meisten stammen aus Familien, in denen sich die Eltern nicht ausreichend kümmern können.
"Da geht es um Heimweh, Schlafstörungen und Sorgen um die, die sie verlassen mussten", erzählt Weiß. Umso wichtiger ist es, dass die Kinder Kontakt zu ihrer Familie haben. Besuche, gemeinsame Ausflüge und Feste gehören zum Alltag.
Der Tagesablauf der 29-Jährigen ist dicht getaktet. Sind die drei Geschwister Max, Sophie und Michael sowie die Schwestern Irene und Isabell in der Schule und im Kindergarten, stehen Besprechungen, die Vorbereitung für den Nachmittag und die Dokumentation an. Putzen und Kochen gehören auch zu ihren Aufgaben.
Nach dem Essen macht sie mit den Kindern Hausübung. Nach einer Mittagspause wird gespielt oder gebastelt, auch Therapien werden absolviert. "Ganz wichtig sind die Abendrituale", erzählt Weiß. Dazu gehört das Geschichtenerzählen samt Zudecken oder das Nachbesprechen des Tages. Danach steht wieder Dokumentation an. "Ruhe habe ich, wenn die Kinder im Bett sind, und am Vormittag ein bisschen", erzählt die Kinderdorf-Mutter. Die Sozialpädagogen haben eine Sechs-Tage-Woche, der zusätzliche Tag wird abgegolten. Ihren Dienstplan kann sie frei einteilen. Hat sie frei, wird sie von der Familienpädagogin vertreten.
"Bekommt viel zurück"
Dass der Job mitunter sehr anstrengend ist und ihr "die Luft ausgehen" kann, räumt Weiß ein. Dennoch liebt sie ihn. "Was so schön ist, sind die ruhigen Momente mit den Kindern. Sei es das Reden am Abend, oder wenn die Kleine schreit ,Esther-Mami, Esther-Mami!’. Man bekommt sehr viel zurück."
Auf ihre eigene Familie müssen die Kinderdorf-Mütter (oder Väter) übrigens nicht verzichten. Wenn auch Weiß und Kollegin Kamir derzeit Single sind. "Es ist etwas schrill, wenn man erklärt, hey, ich habe fünf Kinder. Es sind zwar nicht meine, aber sie leben bei mir", erzählt sie lachend. Dabei, da sind sich Weiß und Kamir einig, wären männliche Bezugspersonen sehr wichtig für die Kinder. "Wer lebt mir vor, wie das Mann-Sein definiert wird – darum geht es", erklärt Kamir. Derzeit versuchen die Pädagoginnen die fehlenden Bezugspersonen zu kompensieren. Kinderdorf-Väter ersetzt das jedoch nicht.
Hermann Gmeiner gründete 1949 in Imst, Tirol, das erste SOS-Kinderdorf. Heute ist das Netzwerk in 135 Ländern aktiv. In Österreich arbeiten 60 Kinderdorf-Mütter. In diesen Familien leben rund 270 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren. In der Hinterbrühl werden 45 Kinder in zehn Familien betreut. Insgesamt betreut das Netzwerk in den Familien, Wohngruppen und Jugendeinrichtungen 1800 Kinder und Jugendliche, 2700 werden ambulant begleitet. Die Männerquote bei den Mitarbeitern liegt bei nur 26 Prozent.
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