Pflegeheimprozess: Möglicher Medikamentenmissbrauch steht im Raum
Im Prozess um Vorfälle in einem Pflegeheim in Sitzenberg-Reidling (Bezirk Tulln) hat die frühere Vorgesetzte der vier Angeklagten von "sehr müden" Bewohnern im Anklagezeitraum 2020 bis 2021 berichtet. Eine Ursache sei nicht gefunden worden, so die 48-Jährige am Donnerstag in St. Pölten. Bei einer Behördenkontrolle wurde ein Medikamentenvorrat entdeckt. Laut Anklage sollen Bewohnern zusätzliche Mittel gegeben worden sein, um sie ruhigzustellen. Die Vorwürfe werden bestritten.
Einen Medikamentenmissbrauch habe sie nie vermutet, erklärte die damalige Pflegedienst- und Wohnbereichsleiterin. Im Gegensatz zu den Angeklagten sagte sie, dass zusätzlich verordnete Mittel nur nach Einbeziehung von diplomierten Mitarbeitern verabreicht worden seien: "Ohne Rücksprache kann das nie passiert sein." Aufgefallen sei, dass Bewohner sehr müde waren und sich deren Zustand verschlechterte, meinte die Frau übereinstimmend mit anderen Zeuginnen: "Das war für uns nicht wirklich erklärbar." Nachdem die Angeklagten nicht mehr im Heim tätig waren, habe sich der Zustand der Demenzkranken verbessert: "Die Leute waren wacher und haben mehr am Leben teilgenommen."
Die Vorwürfe waren vor zwei Jahren bekanntgeworden. Eine Mitarbeiterin der Fachaufsichtsbehörde berichtete am Donnerstag von einer unangekündigten Überprüfung am 7. April 2021 in dem Senecura-Heim. Dabei wurden im oberen Bereich eines Medikamentenkastens mehrere Körbe mit Mitteln entdeckt, die keinem Bewohner zugeordnet waren. In den Schütten lagen Psychopharmaka, Schlaf- und Abführmittel durcheinander, schilderte die 35-jährige Zeugin am fünften Tag der Schöffenverhandlung. Die Polizei stellte die Mittel sicher. Sonst wurden laut der Behördenmitarbeiterin keine Mängel festgestellt, aber man habe sich auch hauptsächlich auf die Medikamentengebarung konzentriert.
Laut Aussagen von Mitarbeitern wurden übrig gebliebene Medikamente verstorbener Bewohner für Notfälle aufbewahrt. Die frühere Pflegedienst- und Wohnbereichsleiterin wusste von diesem Vorrat. Welche Medikamente das waren, warum sie dort lagen und wie sie dorthin gekommen sind, "kann ich Ihnen jetzt wirklich nicht erklären", sagte die 48-Jährige zur Richterin. Aufgrund von Überlastung habe sie "nicht alles" kontrollieren können. Von Missständen oder Übergriffen sei ihr bis März 2021 nichts zu Ohren gekommen. An die von einer Mitarbeiterin geschilderte Meldung von einem Übergriff im Sommer 2020 konnte sie sich nicht erinnern. Die Angeklagten hatten aus Sicht der 48-Jährigen "immer gut gearbeitet".
Demenzkranke sollen laut Staatsanwaltschaft gequält, misshandelt, geschlagen, beschimpft und bespuckt worden sein. Nach Beschwerden von Angehörigen habe es immer Kontrollen gegeben, sagte die 48-Jährige. Eine Frau soll sich über die Viertangeklagte beschwert haben, dass diese "grob im Umgangston mit ihrer Mutter" sei, darauf habe sie die Beschäftigte auf eine wertschätzende Herangehensweise hingewiesen, sagte die Zeugin. Sie betonte: "Ich habe die Bewohner geliebt. Ich habe immer geschaut, dass es ihnen gut geht." Sie sei "schockiert" gewesen, als sie von den Vorwürfen erfuhr. Ein Ermittlungsverfahren gegen die 48-Jährige wurde eingestellt.
Eine Allgemeinmedizinerin berichtete, dass verordnete Medikamente in dem Heim nicht den erwünschten Effekt gezeigt hätten. Einige Bewohner seien sehr müde gewesen, obwohl sedierende Medikamente abgesetzt wurden. Andere seien wiederum extrem unruhig gewesen. Eine Fachärztin berichtete, dass sie ab dem ersten Corona-Lockdown mehrere Monate lang keine Visiten im Heim durchführte.
Anklage ausgeweitet
Die Tochter einer mittlerweile verstorbenen Bewohnerin berichtete im Zeugenstand von großer Müdigkeit ihrer Mutter und gestiegenen Medikamentenrechnungen. In Folge wurde die Anklage um ein weiteres Opfer ausgedehnt.
Die Anklagepunkte betreffen Quälen und Vernachlässigen wehrloser Personen, fortgesetzte Gewaltausübung und sexuellen Missbrauch von wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Personen von März 2020 bis März 2021. Die vier früheren Pflegekräfte tauschten sich via WhatsApp aus. So wurde etwa geschrieben, dass Bewohner "gleich niedergespritzt werden". Die Dienstverhältnisse mit den Beschuldigten - drei Frauen und ein Mann - wurden nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendet. Im Fall einer Verurteilung drohen bis zu zehn Jahre Haft. Der Prozess am Landesgericht St. Pölten läuft seit Jänner, der nächste Verhandlungstermin ist für 30. März geplant.
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