Interview: „Bewohnerrechte sind öfter nur ein Schlagwort“
Seit fast zwei Jahren nimmt ein Pflegeteam der Patientenanwaltschaft alle 110 Bewohnerheime Niederösterreichs unter die Lupe. Anlass war der Ende 2016 bekannt gewordene Pflege-Skandal in einem privaten Heim in Kirchstetten im Bezirk St. Pölten. Im Vorjahr wurden niederösterreichweit fast 230 Beschwerden, Heimbesuche und Beratungen bearbeitet.
Auch wenn es noch keine ganzjährigen Vergleichswerte gibt, ist Lisa Haderer, Leiterin der neuen Anlaufstelle für (anonyme und vertrauliche) Hinweise, überzeugt, „dass bei uns viel los ist“.
KURIER: Wie geht es – seit dem Bekanntwerden des Kriminalfalls – mit dem Pflegeheim in Kirchstetten weiter?
Lisa Haderer: Das ganze Haus ist nach wie vor erschüttert. Vieles hat sich seither verbessert. Aber man ist noch immer auf einem langen Weg zur Stabilität. Einerseits braucht das Haus Zeit, um seine Linie zu finden, andererseits sind wir präsent, um die Entwicklungen im Blick zu haben.
KURIER: Welche Mängel und Probleme sind in ganz Niederösterreich bei Ihren Heimbesuchen aufgetreten?
Haderer: Es gibt tolle Häuser. Aber auch andere, in denen nicht selten Bewohnerrechte missachtet werden – dort ist dieser Begriff nur ein Schlagwort auf ihren Hochglanzbroschüren. Das heißt, der Mensch muss sich dort dem System unterordnen. Es gibt oft Bade- oder Duschpläne. Ein weiteres Problem ist, dass das Personal meistens überlastet ist. Es gibt Kolleginnen, die während eines Nachtdiensts in einem Haus zu dritt für rund 120 zum Teil demente Menschen zuständig sind. Sie fühlen sich am Limit und wollen so nicht weiterarbeiten. Auch solche Arbeitsbedingungen verursachen einen Rückgang an Bewerbungen in den Häusern. Mir fällt auch auf, dass eine soziale Betreuung ohne die Ehrenamtlichen kaum möglich ist. Hygienische Mängel sind mir kaum noch untergekommen.
Kündigen Sie Ihre Besuche an?
Wir machen sowohl unangekündigte als auch angekündigte Besuche. Im abgelaufenen Jahr absolvierten wir insgesamt 67 Hausbesuche in Langzeitpflegeeinrichtungen. 25 davon waren nach einer Meldung.
Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?
Dank der Palliativ- und Hospizkultur hat sich im Umgang mit den Hausbewohnern bereits vieles gebessert. Aber die Begegnungsqualität ist in einigen Häusern ausbaufähig. Leider gibt es immer noch Betreuungszentren, die eine „eigene Welt“ sind, ohne Anschluss nach außen. Toll sind hingegen Pflegeeinrichtungen, wo es gleich angrenzend Kindergarten-Gruppen gibt. So gibt es wunderbare Berührungspunkte für Jung und Alt. Wichtig wäre das Abdecken von Arbeitsspitzen – etwa bei Abenddiensten, um die Individualität der Bewohner zu wahren. Nicht sie leben zufällig an unserem Arbeitsplatz, sondern wir arbeiten im Lebensraum dieser Menschen.
Nach dem Ende des Pflegeregresses wurde befürchtet, dass die Häuser überrannt werden, ist das Szenario eingetreten?
Es gibt regionale Unterschiede. Mancherorts sind immer wieder Plätze frei und andere Häuser haben Wartelisten. Von einem nicht bewältigbaren Ansturm auf die Betreuungszentren kann aus meiner Sicht keine Rede sein.
Wie beurteilen Sie die Ausbildungssituation in Niederösterreich, seit es bundesweit den dreistufigen Bildungsweg (einjährig, zweijährig oder dreijährig mit Bachelor-Abschluss) gibt?
Aus meiner Sicht ist es gut, dass die Pflegeausbildung in Österreich endlich auf europäisches Niveau angehoben wurde. Wichtig ist, dass man nicht nur auf Veränderungen und Entwicklungen in der Pflege Rücksicht nimmt, sondern noch dazu, dass es in der Pflege auch Forschung gibt. Das Ziel muss allerdings sein: „Die Besten ans Bett“. Die Differenzierung nach unten ist ausgereizt. Ich schließe mich einer Kollegin an, die sagt, es darf nicht sein, dass unter dem Deckmantel der Reform weitere Ausbildungswege – vielleicht eine Pflegelehre – gesucht werden.
Welche Herausforderungen im Pflegebereich kommen auf uns in Zukunft zu?
Wenn man die Pflege daheim ausbauen will, muss das auf einer professionellen Ebene passieren. In Sachen Pflegegeld finde ich es wert, über ein Sachleistungsprinzip nachzudenken, genauso wie das Patientenanwalt Gerald Bachinger betont, um das missbräuchliche Verwenden des Geldes zu unterbinden und den Menschen das zu ermöglichen, was ihrem tatsächlichen Bedarf entspricht. Außerdem müssen mehr flexiblere Betreuungsmöglichkeiten geschaffen werden, um Pflegebedürftige auch stundenweise in einem Tageszentrum gut aufgehoben zu wissen. Das hilft den Angehörigen, wenn sie arbeiten müssen. Ideal wäre auch ein Pflegenotdienst, so wie in Wien, um den pflegenden Angehörigen zu helfen, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
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