Er wurde voriges Jahr hundert Jahre alt, sie wird diesen besonderen Geburtstag heuer im Herbst feiern. „Wenn wir jung wären, würden wir es Liebe nennen“, sagt sie, „so ist es Zuneigung, Sympathie, Verbundenheit“. Renate Gutjahr und Franz Gassner haben einander im sehr hohen Alter gefunden, seit zwei Jahren sind sie so etwas wie ein Paar. Er schickt ihr Blumen, verwöhnt sie mit einem guten Abendessen und kleinen Aufmerksamkeiten. Beide sind zwar körperlich etwas geschwächt, aber geistig bewundernswert rege. Sie leben jeder für sich selbstständig in ihren Wohnungen und haben einander viel zu sagen.
Gymnastikgruppe
„Wir haben uns geerbt“, beginnt Renate Gutjahr die Erzählung über ihre ungewöhnliche Beziehung. Vor drei Jahren ist Franz Gassners Frau Johanna gestorben, mit der Renate befreundet war und sich viele Jahre in einer Gymnastikgruppe traf.
„Meine Frau hat immer sehr ambitioniert über Renate gesprochen, so hab ich sie schon gekannt, ohne sie zu kennen“, sagt Franz Gassner. „Nach Johannas Tod hat mich Renate angerufen, um mir zu kondolieren. Wie viele Leute damals, aber mir ist aufgefallen, dass ihre Worte besonders herzlich und einfühlsam waren. Da hab ich mich erinnert, wie meine Frau immer voller Hochachtung über sie gesprochen hat. So haben wir uns wieder und wieder angerufen, und es ist eine Verbundenheit entstanden, aus der mehr als Freundschaft wurde.“
Renate Gutjahr wurde am 19. November 1923 in einem kleinen Dorf in Nordmähren geboren und hat alle Freuden und Leiden erduldet, die in einem so langen Leben auf einen zukommen können. Sie studierte in Wien Jus und heiratete einen Studienkollegen. Nach dem Krieg wurde ihre sudetendeutsche Familie von den Tschechen enteignet. Renate flüchtete mit ihrer Tochter zu Fuß durch ganz Böhmen, brachte das Baby ins Spital des Städtchens Neutitschein, wo es mit zehn Monaten starb. „Die kleine Martina ist regelrecht verhungert. Es gab einfach nichts zu essen.“
Das ist fast achtzig Jahre her, doch wenn Renate diese Tragödie schildert, laufen ihr immer noch die Tränen über die Wangen. Und der neben ihr sitzende Franz streichelt zärtlich tröstend ihre Hand, die er bis zum Ende unseres Treffens nicht mehr loslässt.
Renates Ehemann kam schwer krank aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause, arbeitete als Richter und starb 1974 mit nur 55 Jahren.
Auch ihr zweiter Mann Friedrich Birsak – Brigadier des österreichischen Bundesheeres und zeitweise Militärkommandant von Salzburg – ist seit fast 30 Jahren tot. Vor drei Jahren fiel schließlich ihr 74-jähriger Sohn der Covid-Pandemie zum Opfer. Eine Tochter, vier Enkel und vier Urenkel sind ihr geblieben.
Renate Gutjahr hat noch in reifen Jahren Kunstgeschichte studiert und wurde mit über 60 Jahren zum Dr. phil. promoviert. Und mit fast hundert klopfte dann in der Person des Kommerzialrats Ing. Dr. h. c. Franz Gassner völlig unerwartet noch einmal das Glück an ihre Tür. „Es ist unglaublich“, sagt sie, „so etwas passiert einem doch in unserem Alter nicht mehr“, weshalb sie ihre Beziehung auch „als kleines Wunder“ empfindet. „Zusammen sind wir 200 Jahre alt.“
Franz Gassner kam am 23. Juni 1922 in Wien zur Welt, wurde Maschinenbauingenieur und machte Karriere bei der VOEST in Linz, wo er es zum Werksdirektor brachte, ehe er Geschäftsführer der VOEST-Alpine Krems wurde. Er hatte viel mit Politikern zu tun, von Rudolf Kirchschläger bis Bruno Kreisky, den er als seinen „Mentor und väterlichen Freund“ bezeichnet. „Als ich nach Krems kam, wurde von mir erwartet, dass ich der SPÖ beitrete, aber ich weigerte mich. Ich habe zu Kreisky gesagt, dass ich das Beste für das Werk tun werde, aber zu keiner Partei gehe. Das hat er akzeptiert.“
Kreisky war es auch, der Gassner 1976 zurück nach Linz, diesmal in den Konzernvorstand der VOEST, holte. Nach seiner Pensionierung gründete Franz Gassner eine Beraterfirma, in der er bis in sein 85. Lebensjahr tätig war.
Schicksalsschläge
Auch er musste mehrere Schicksalsschläge erleiden. Seine erste Frau starb 1988, die zweite vor drei Jahren. Und 2018 verlor er seinen 72-jährigen Sohn. Doch drei Enkel, zwei Urenkel und zwei Ururenkel tragen dazu bei, sich die Lebensfreude zu erhalten. „Ich lebe immer noch gerne“, sagt er. „Ich stemme täglich Gewichte, schwimme, hab die Energie eines 50-Jährigen. Ich lese Bücher (ohne Brille, Anm.) und jeden Tag drei bis vier Zeitungen, hole mir alles Wissenswerte aus dem Internet. Nur meine Beine tun nicht mehr so mit wie sie sollten, aber gewisse Beschwerden muss man mit hundert eben hinnehmen.“
Welt in Aufruhr
Renate Gutjahr hat ihre Zweifel, ob man so alt werden soll. „Ich hab mir das Alter ganz anders vorgestellt. Ruhiger vor allem. Die Alten werden nicht mehr so geschätzt wie früher. Und dann dieser schreckliche Krieg, die ganze Welt ist in Aufruhr.“
Andererseits liest auch sie viel, nicht gerade leichte Kost: „Zurzeit Konrad Paul Liessmann und andere Philosophen.“ Und dann mit einem Blick zu ihrem Franz: „Ich bin glücklich und überrascht über die Möglichkeit, die wir beide haben, unsere Verbindung ist keine Selbstverständlichkeit, und deshalb freu ich mich doch auch, noch am Leben zu sein.“
Vier bis fünf Telefonate
Am Beginn ihrer Freundschaft trafen sie einander noch regelmäßig in ihren Wohnungen – beide im Wien-Döbling – inzwischen wurden die persönlichen Begegnungen seltener, da sie nicht mehr so gut zu Fuß sind. Doch ihre vier bis fünf Telefonate am Tag und die gelegentlichen Besuche bleiben ebenso aufrecht wie die kleinen Geschenke, die er ihr schickt. Und der Gesprächsstoff geht ihnen nie aus.
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