István Körmendi empfing den KURIER in seiner Ordination.
In Budapest lebt und ordiniert der älteste praktizierende Arzt Europas. István Körmendi empfing den KURIER in seiner Ordination und erzählt, wie ihn seine Patienten jung halten. Sein Rezept: Diszipliniert und niemals untätig sein.
Neben dem Haustor hängt eine Tafel, die auf eine Arztordination hinweist. Man läutet an, geht ein paar Stufen hinauf und wird von einem freundlichen Herrn in weißem Arztkittel begrüßt. Ein Mediziner wie viele andere, könnte man meinen. Doch Dr. István Körmendi ist ein besonderer Arzt, nämlich der älteste praktizierende Arzt Europas. Im Juni wird er 102 Jahre alt, und er ist nach wie vor für seine Patienten da.
„Schön, dass Sie aus Wien gekommen sind“, sagt er, hat Kaffee und Kuchen vorbereitet und zeigt uns seine Praxis. Sie ist mindestens so alt wie er selbst, hat doch sein Vater, der ebenfalls Mediziner war, schon hier ordiniert.
Gute Ratschläge
„Wie schafft man es, mit über hundert Jahren als Arzt tätig zu sein?“, frage ich gleich und bekomme als Antwort: „Ich habe mich auf das Altwerden vorbereitet. Ich hatte viele alte Patienten, denen ich Ratschläge gab. Jetzt kann ich diese Ratschläge selbst befolgen.“
Dr. Körmendis Schild am Hauseingang: „Allgemeiner Facharzt Hausarzt 1. Zwischengeschoß“
Dr. Körmendi spricht perfekt Deutsch („Mein Kindermädchen kam aus Graz“) und neben Ungarisch auch noch Englisch, Französisch und Italienisch. „Andere Menschen brauchen Drogen oder Alkohol“, sagt er lächelnd, „das brauche ich nicht, mein Alkohol sind die Gespräche mit den Patienten, die halten mich jung.“ Und: „Die Medizin ist mein Leben.“
Er hat keine festen Ordinationszeiten, aber es vergeht kein Tag, an dem keine Patienten anrufen, andere schicken Mails, in der Hoffnung, vom reichen Erfahrungsschatz des Arztes profitieren zu können. Dr. Körmendi beantwortet alle Fragen seiner Patienten, soweit es in seiner Macht steht. Wieder andere kommen in seine Ordination in der Budapester Mészáros-Straße. Es seien 30 bis 35 Menschen, schätzt er, die sich ihm heute noch anvertrauen.
István Körmendis Vorzug ist es, sich im Gegensatz zu jüngeren Ärzten, deren Wartezimmer voll sind, Zeit für jeden einzelnen Fall nehmen zu können. Honorar verlangt er keines. „Meinen Krankenkassenvertrag habe ich mit über hundert Jahren aufgekündigt, als ich eine Covidinfektion hatte und ziemlich geschwächt war. Es war immer mein Prinzip, dass ein Patient so behandelt wird, wie auch ich behandelt werden möchte, wenn ich einen Arzt aufsuche. Als ich dann selbst krank wurde, konnte ich das nicht mehr gewährleisten.“ Inzwischen hat er sich wieder erholt. Und arbeitet weiter.
Auf die Frage, ob er selbst für das eigene Wohlergehen einen Hausarzt oder eine Hausärztin hat, sagt er: „Ja, eine Kollegin von mir, aber ich habe sie noch nie konsultiert.“
Natürlich kennt Dr. Körmendi seine Grenzen. Er „behandelt“ nicht, sondern berät und schickt seine Patienten zu den zuständigen Kollegen.
Auf die Bitte, mir Fälle aus seiner Praxis zu nennen, legt er los: „Neulich rief mich um sieben Uhr abends eine Frau an und sagte: ,Herr Doktor, ich spüre in meiner Brust den ganzen Tag schon ein Unruhegefühl.’ Daraufhin forderte ich sie auf, ihr Handy an die Brust zu legen. Ich hörte den charakteristischen unregelmäßigen Herzrhythmus in meinem Telefon, weshalb ich ihr sofort per Mail einen Überweisungsschein für eine Klinik schickte. Zwei Stunden später rief mich ihr Mann aus dem Spital an und sagte, das EKG hätte meine Diagnose bestätigt, seine Frau würde bereits behandelt. Dieses Gefühl, geholfen zu haben, ist ein Sieg für mich, ich hätte ihr auch sagen können: ,Nehmen Sie ein Beruhigungsmittel’, aber das hätte möglicherweise einen lebensgefährlichen Infarkt ausgelöst.“
István Körmendi wurde am 27. Juni 1923 als Stephan Klein in Budapest geboren. 1945 wechselte seine Familie ihren Namen von Klein auf Körmendi, benannt nach der nahe der österreichischen Grenze gelegenen Stadt Körmend, aus der seine Vorfahren stammen. Der Grund für die Namensänderung: „Nach der Besatzung Ungarns durch die Nationalsozialisten hatte die deutsche Sprache hier keinen besonders guten Klang.“
Körmendi und seine jüdische Familie haben den Holocaust mit Glück, zum Teil als Zwangsarbeiter, überlebt, aber die Eltern und die 16-jährige Schwester seiner Frau wurden wie 500.000 ungarische Juden von den Nazis und ihren Kollaborateuren ermordet. Obwohl István Körmendi als Jude die Universität in dieser Zeit nicht besuchen durfte, gelang es ihm, sich „in medizinische Vorlesungen hineinzuschwindeln, illegal weiterzustudieren und die Prüfungen nach dem Krieg nachzuholen“.
Altersgrenze Die Altersgrenze für praktizierende Ärzte wird weltweit unterschiedlich gehandhabt. In Ungarn gibt es keine festgelegte Grenze, dort arbeiten relativ viele Ärzte nach dem Pensionsalter weiter. Ähnlich ist die Situation in den USA, wo für Mediziner ebenfalls keine fixe Altersgrenze gilt. Diese Regelung führt dazu, dass rund 30 Prozent der Ärzte in den USA das Rentenalter von 65 Jahren überschritten haben. Dies mildert den akuten Ärztemangel. Der „LifeBridge Health“-Gesundheitsdienst führt alle zwei Jahre Tests für seine Ärzte ab dem 75. Lebensjahr durch.
103 Jahre In Cleveland/Ohio in den USA ist laut „Guinnessbuch der Rekorde“ der Neurologe Dr. Howard Tucker als ältester praktizierender Arzt der Welt tätig – er wird am 10. Juli 103 Jahre, ist somit ein Jahr älter als Dr. Körmendi. In Deutschland wurde die Altersgrenze von 68 Jahren 2009 abgeschafft, um dem Ärztemangel zu entgegnen. In Österreich gilt für Kassenärzte eine Altersgrenze von 70 Jahren. Für Regionen mit Ärztemangel gibt es Ausnahmen und somit vereinzelt über 80-jährige Kassenärzte. Für Wahlärzte gelten keine Alterslimits.
Der alte Kaiser
Körmendi hat alle Regime seines Jahrhunderts in Ungarn durchgemacht. „Als ich zur Welt kam, war die österreichisch-ungarische Monarchie erst seit fünf Jahren zu Ende. Mein Vater hat sie sehr geschätzt, weil Kaiser Franz Joseph als König von Ungarn den Juden die Möglichkeit gab, zu studieren, was vor dem Ausgleich mit Ungarn nicht der Fall war.“
Der 101-Jährige erlebte das autoritäre System des faschistischen Politikers Miklós Horthy, den Zweiten Weltkrieg, die Besatzung Ungarns durch die Nationalsozialisten, die nicht minder brutalen „Pfeilkreuzler“, die Machtübernahme der Sowjets, den Volksaufstand gegen die kommunistische Diktatur, den liberaleren „Gulaschkommunismus“ und das Ende der kommunistischen Herrschaft. Während des Krieges war es Körmendi durch eine mutige Aktion gelungen, Dutzenden Juden das Leben zu retten.
„Der Doktor“, wie man ihn überall nennt, ist in Budapest eine bekannte Persönlichkeit, nicht nur infolge seines Alters. Und so sollte er aus Anlass seines hundertsten Geburtstags eine hohe staatliche Auszeichnung erhalten. Doch er lehnte sie ab. „Ich konnte sie nicht annehmen, wenn ich gleichzeitig den Ministerpräsidenten Orban und seine Politik öffentlich kritisiere.“ Andere Orden – die ihm die oppositionelle Stadtregierung von Budapest verlieh – nahm er hingegen gerne in Empfang.
István Körmendi heute in seiner Ordination mit Opernsänger Johannes von Duisburg
„Das Leben gerettet“
Während Dr. Körmendi erzählt, kommt der Opernsänger Johannes von Duisburg, der vom Patienten zum Freund wurde, in die Ordination. „Der Doktor hat mir das Leben gerettet“, sagt der gebürtige Deutsche, „ich kam eines Tages zu ihm, da sagte er, ohne mich untersucht zu haben: ,Sie müssen Ihren Blutdruck kontrollieren lassen.’ Er hat mir angesehen, dass da etwas nicht stimmte. Ich bekam das richtige Medikament, und heute geht es mir wieder gut.“
Noch ein Fall, den Körmendi aus seiner Praxis schildert: „Ein 75-jähriger Patient besuchte meine Ordination. Ich hatte bei ihm, als er 15 Jahre jung war, einen Herzklappenfehler diagnostiziert. Inzwischen war er in einen anderen Bezirk übersiedelt, doch er kam nach 60 Jahren wieder, um meine Meinung über eine inzwischen notwendig gewordene Herzoperation einzuholen.“
Auf die Frage, ob er selbst ein gesundes Leben führen würde, antwortet Körmendi: „Ich versuche Tierfette wegen des Cholesterins möglichst zu vermeiden, ansonsten ernähre ich mich ganz normal. In meiner Jugend habe ich eine Zeitlang geraucht, aber bald wieder aufgehört. Nicht so gesund war, dass ich immer viel Stress hatte, aber ein Burnout kenne ich nicht, eben weil ich meinen Beruf liebe.“ Sich zu bewegen, ist ihm heute noch wichtig. „Wenn ich am Schreibtisch sitze, stehe ich alle 15 Minuten ein paar Mal auf und setze mich wieder hin, das ist wichtig für die Muskulatur.“
István Körmendi mit seiner verstorbenen Frau Klara und Tochter Edith, die heute als Internistin in Wien lebt.
Körmendi ist mobil und lebt seit dem Tod seiner geliebten Frau Klara vor sieben Jahren alleine in seiner Ordinationswohnung, für deren Haushalt er selbst sorgt. Seine Tochter Edith Szanto und sein Schwiegersohn Erwin sind in Wien als Internistin bzw. Orthopäde tätig, weiters hat er zwei Enkel und zwei Urenkel.
Patientenbesuche absolviert er nicht mehr, seit er mit 99 Jahren sein Auto verkaufte. Stattdessen sieht man ihn mit seinem E-Mobil durch die Budapester Altstadt fahren, um Besorgungen zu erledigen.
István Körmendi flott mit dem E-Mobil unterwegs durch Budapest.
Buchautor mit 100 Jahren
Dabei wurde er, was die Gene betrifft, gar nicht besonders verwöhnt: Körmendis Mutter starb mit 82, der Vater mit 79, ein Großvater wurde nur 66. „Der Unterschied zu damals sind die großartigen Medikamente, die wir heute haben. Als mein Vater ein junger Arzt war, gab es keine Antibiotika, wenn da ein Patient mit einer Lungenentzündung kam, hing es von seinem Herzen ab, ob er das überstand oder nicht.“
Fragt man István Körmendi, wie viele Stunden er arbeiten würde, sagt er: „Eigentlich den ganzen Tag, oft bis spätabends.“ Trotz seines Alters fühlt er sich durch die Ordination allein in seinem Arbeitseifer nicht ausgelastet: Körmendi hat vor kurzem – eigenhändig am Computer – seine Lebenserinnerungen „Egy százéves háziorvos visszatekint“ („Ein hundertjähriger Hausarzt blickt zurück“) geschrieben, die mittlerweile als Buch (und eBook) erschienen sind und zurzeit ins Deutsche und Englische übersetzt werden.
„Ein Patient muss so behandelt werden, wie auch ich behandelt werden möchte“: Dr. István Körmendi.
Bereits 1986 hat er ein Buch über die Praxis des Allgemeinmediziners verfasst, das zu Ungarns Medizinklassikern zählt. „Ich habe das Buch zuletzt 2015 auf den neuen Stand gebracht und auf 1400 Seiten erweitert“, berichtet Körmendi. „Da sich die Medizin seither rasant weiterentwickelt hat, bat mich der Verlag noch eine Neuauflage zu machen. Daran arbeite ich jetzt gerade.“ Auf dem Laufenden über die neueste medizinische Forschung hält er sich durch ärztliche Fachliteratur und das Internet. „Wo ich kann“, sagt er, „suche ich neue Erkenntnisse“.
Gut drei Stunden waren wir bei Dr. Körmendi, der in dieser Zeit ohne Unterbrechung aus seinem Leben erzählte und dabei nicht müde wurde. An den wohlverdienten Ruhestand verschwendet er keinen Gedanken, lautet doch sein Überlebensrezept: „Diszipliniert und niemals untätig sein.“
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