Paul Wittgenstein: Der einarmige Pianist
Paul Wittgenstein hatte eben erst in Wiens Großem Musikvereinssaal sein umjubeltes Debüt gefeiert, da brach der Erste Weltkrieg aus, und er wurde nach Galizien an die Front gerufen. Dort passierte das denkbar Schlimmste, das einem Konzertpianisten widerfahren kann. Wittgenstein wurde bei Gefechten durch eine Kugel der Ellbogen zerschmettert. Sein rechter Arm musste amputiert werden.
„Keine andere Wahl“
Eine Tragödie, die wohl jeder andere Pianist mit dem Ende seiner Laufbahn quittiert hätte. Doch statt zu verzweifeln, investierte Wittgenstein seine ganze Kraft, um mit der verbliebenen linken Hand auf dem geliebten Instrument weiterzuspielen. So malte er noch als Patient im Kriegslazarett eine Tastatur auf ein Stück Karton, auf der er mit der linken Hand beharrlich trainierte. „Da Klavierspielen das Einzige ist, was ich habe“, schreibt er einem Freund, „hatte ich sozusagen keine andere Wahl.“
Das zweite Konzert
Am 12. Dezember 1916 trat er, im Programmheft als „linkshändiger Pianist“ angekündigt, wieder im Musikvereinssaal auf. Mittlerweile 29 Jahre alt, spielte er Chopin so hingebungsvoll, dass der Kritiker der Neuen Freie Presse befand: „Aus dem Spiel dieser Linken klingt keineswegs die Wehmut des Künstlers heraus, keine Rechte zu besitzen. Vielmehr der Triumph, diese leicht entbehren zu können.“
Paul Wittgenstein, der aus einer prominenten jüdischen Industriellenfamilie stammte, kam 1887 in Wien als achtes von neun Kindern zur Welt. Schon seine Eltern waren überaus musikalisch, und sein jüngerer Brüder war der berühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein.
Aufgewachsen im Palais
Pauls Vater hatte es in der Stahlbranche zu großem Reichtum gebracht, doch vier seiner Kinder endeten tragisch: Drei Söhne nahmen sich das Leben, eine Tochter starb bei ihrer Geburt.
Paul wuchs im prunkvollen Palais Wittgenstein in der heutigen Argentinierstraße in Wien-Wieden auf, in dem legendäre Musikabende mit Brahms, Clara Schumann, Mahler und Arnold Schönberg veranstaltet wurden.
Nach dem Verlust des rechten Arms lernte Wittgenstein mithilfe eines „Selbsthilfebuchs für amputierte Kriegsheimkehrer“ einarmig zu essen, sich zu waschen, anzuziehen und den Alltag zu meistern. Selbst sein Bruder Ludwig konnte nicht glauben, dass Paul nach diesem Schicksalsschlag je wieder Klavier spielen würde, schreibt er doch an die Familie: „Immer wieder muss ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist.“
Doch der setzte seine Karriere als Klaviervirtuose mit großem Erfolg fort, erlangte als „linkshändiger Pianist“ Weltruhm. Mit seinem verbliebenen Arm versuchte sich Paul zunächst an einer Nocturne, die Franz Liszt für den ebenfalls einarmigen Pianisten Geza Graf Zichy komponiert hatte. Darüber hinaus arrangierte Wittgenstein für sich selbst Werke von Beethoven, Mozart, Schubert und Wagner. Und er konnte es sich durch das vom Vater ererbte Vermögen leisten, bei zeitgenössischen Komponisten Musikwerke für die linke Hand in Auftrag zu geben. Maurice Ravel schrieb 1929 für Wittgenstein das „Concerto für die linke Hand“, weiters komponierten für ihn Richard Strauss, Sergej Prokofjew, Paul Hindemith und Benjamin Britten.
Paul Wittgenstein war sicher kein einfacher Patron: Die Zusammenarbeit mit Maurice Ravel wie auch die mit Benjamin Britten endete in heillosem Streit, weil er sich bei der Interpretation ihrer Klavierparts allzu große Freiheiten nahm.
Von 1931 bis 1938 unterrichtete Wittgenstein im Wiener Konservatorium, in dem er sich in seine um 28 Jahre jüngere, fast blinde Schülerin Hilde Schania verliebte, die er später heiraten und mit der er drei Kinder haben sollte. Nach Hitlers „Anschluss“ flüchtete er mit seiner Familie in die USA, wo er u. a. mit dem Cleveland Orchestra spielte.
Die Tochter erinnert sich
Seine 1937 in Wien geborene Tochter Johanna „Joan“ Ripley lebt als eine der wenigen Personen, die Paul Wittgenstein noch kannten, in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia. Sie war 24 Jahre alt, als ihr Vater starb, und erinnert sich für dieses Buch, dass er „ein äußerlich strenger Mann war, der aber eine warme und sanfte Seite hatte, die er vor der Welt verborgen hielt… Sich über sein Unglück beschweren oder jammern, das gab es in meiner Gegenwart niemals. Selbstmitleid wurde nicht geduldet, weder bei anderen noch bei sich selbst… Ich weiß nicht, ob er anderen ein Vorbild sein wollte, aber jetzt, Jahrzehnte später, höre ich von Behinderten, dass er oft ihr Vorbild ist… Meine schönsten Erinnerungen sind Weihnachten, Spaziergänge mit Papa im Wald oder am Strand und das Klavierkonzert, das seine Schüler jedes Jahr im Mai bei uns zu Hause gaben.“
Lebensabend in New York
Seinen Lebensabend verbrachte Paul Wittgenstein als Klavierlehrer in New York. Der weltberühmte „linkshändige Pianist“ starb als letztes der Wittgenstein-Geschwister am 3. März 1961 im Alter von 73 Jahren. Viele Stücke, die für ihn geschrieben wurden, werden heute noch von zweihändigen Pianisten aufgeführt.
Sein jüngerer Bruder Ludwig hatte sich als Philosoph mit der menschlichen Endlichkeit auseinandergesetzt: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens“, schrieb er. „Den Tod erlebt man nicht.“
Im Jahr 1982 veröffentlichte Thomas Bernhard die Erzählung „Wittgensteins Neffe“, in der es um dessen Freundschaft mit Paul Wittgenstein geht. Gemeint ist jedoch nicht der Pianist, sondern dessen gleichnamiger Großneffe, der wie sein Bruder Philosoph war.
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