"Die wollen ihre Kinder nicht in Särgen zurückkriegen"

Gewalttäter haben meist eigene Gewalterfahrung, sagt Christoph Koss.
Der KURIER sprach mit Christoph Koss, Geschäftsführer des Bewährungshilfevereins Neustart, über Erfolge und Rückschläge bei der Kriminalitätsbekämpfung.

KURIER: Wenn man Leute auf der Straße fragt, hört man oft, dass sie sich mehr bedroht fühlen als früher. Hält dieser Befund der Realität stand?

Christoph Koss: Die Kriminalitätsentwicklung ist europaweit rückläufig. Es gibt gegenüber 2006 um 23 Prozent weniger Verurteilungen, bei Jugendlichen sogar um 25 Prozent weniger. Und das trotz verschärfter Straftatbestände wie Verhetzung, sexuelle Belästigung etc. Und heuer hatten wir erstmals in unserer Geschichte auch keinen Anstieg an Zuweisungen zur Bewährungshilfe, wir halten konstant bei rund 11.000 betreuten Klienten.

"Die wollen ihre Kinder nicht in Särgen zurückkriegen"
feel image - Fotografie e.U. Stoß im Himmel 1 1010 Wien

Also gibt es in Wahrheit immer weniger Kriminelle?

Darüber rätseln auch die Kriminologen, weil demgegenüber ja das subjektive Sicherheitsgefühl abnimmt. Das kann mit der Macht der Bilder von einzelnen kriminellen Ereignissen zusammenhängen. Meine nicht wissenschaftlich überprüfte Erklärung, warum die Kriminalität vor allem bei Jugendlichen abnimmt: Weil sie mehr Zeit vor PC und Handy verbringen, das nimmt viel Energie, um auf blöde Ideen zu kommen. Aber auch das Bündel an Maßnahmen, die es jetzt gibt, führt zu weniger Verurteilungen. Das greift, vor allem bei Jugendlichen. Zum Beispiel wurde die Schulsozialarbeit ausgebaut, so etwas musste man vor zehn Jahren noch mit der Lupe suchen. Heute beginnt das im Kindergarten und in der Volksschule, vor Augen zu führen, was Kriminalität ist und wo die Grenzen liegen. Und mehr als jeder zweite aus der Haft Entlassene bekommt heute Bewährungshilfe.

Welche alternativen Modelle zur Strafe haben 2016 gut funktioniert?

Beim Tatausgleich, vor allem bei bei häuslicher Gewalt, merkt man ganz deutliche Erfolge: niedrige Rückfallsquote, hohe Zufriedenheit bei den Opfern. Oder die Sozialnetzkonferenz bei Jugendlichen. Die U-Haft ist jetzt wirklich das allerletzte Mittel, heuer konnten 70 Jugendliche aus der U-Haft entlassen werden, weil für sie ein Zukunftsplan erstellt und von uns kontrolliert wurde. Das beginnt schon beim Aufstehen in der Früh, geht über die Arbeitssuche bis hin zu zwei Treffen mit dem Bewährungshelfer pro Woche. Der Rückfall liegt unter zehn Prozent. Sechs Prozent mussten wieder zurück in die U-Haft, weil sie Weisungen nicht befolgt haben. Wenn der seinen eigenen Plan nicht einhält, ist Feuer am Dach.

Wo stößt man an eine Mauer?

Bei einer kleinen Zahl von Jugendlichen, zum Teil unter 14 Jahren, greift die Betreuung einfach nicht, die sind in keiner Wohngemeinschaft zu halten, landen auf der Straße, in der Prostitution. Da braucht es neue Modelle, gemeinsam mit der Jugendwohlfahrt. Aber für die ist die geschlossene Unterbringung seit den Heimskandalen ein Tabu. Doch man muss den 13-Jährigen von der Straße holen, man kann den nicht auf den Strich gehen lassen.

Welche Rezepte haben Sie gegen gewaltbereite Tschetschenen, Afghanen und andere, besonders auffällige Gruppen?

Man muss ihnen vor Augen führen, was das für die Opfer bedeutet. Und dass sie selbst im Gefängnis landen werden. Da muss man sprachlich mit Bildern arbeiten. Und an der eigenen Biografie arbeiten. Das klingt so entschuldigend, aber es finden sich meist eigene erlebte Gewalterfahrungen. Das ist für manche fast ein Kick, wenn sie von der Opferrolle in die Täterrolle steigen und sich plötzlich stark fühlen, manche erleben das als Befreiung.

Und was tun gegen Hasspostings?

Wir entwickeln gerade ein konkretes Programm aus den Erfahrungen mit Rechtsradikalen, wo wir mit Mauthausen kooperiert haben. Das wird auf Verhetzer zugeschnitten, die meist unbescholtene Leute ohne bisherige kriminelle Vorgeschichte sind, also Bürger und Bürgerinnen. Die müssen lernen, wie man Kritik übt, ohne eine Grenze zu überschreiten. Wir wollen je nach Typus mit Repräsentanten der angegriffenen Gruppen kooperieren, mit Vertretern von NGOs, von Unis, mit Flüchtlingsbetreuern, die Schicksale darstellen können.

Der Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell schlägt vor, Hassposter Flüchtlingsarbeit leisten zu lassen, damit sie sehen: Das sind Menschen wie du und ich, mit Schicksalen, die habe ich angegriffen.

Direkt mit den Opfern wollen wir die Hassposter nicht zusammenbringen, das ist den Opfern nicht zumutbar. Es wäre zum Beispiel nicht gut, gewalttätige Männer ins Frauenhaus zu schicken.

Gibt es Erfolge beim Deradikalisierungsprogramm mit IS-Anhängern?

Wir betreuen derzeit 40 Klienten mit 30 Prozent Frauenanteil, die schon verurteilt sind oder auf den Prozess warten, mit einem eigenen Programm. Bisher gab es einen einzigen Rückfall. Man muss ihnen aufzeigen, dass sie mit der Punzierung als Dschihadist null Perspektive bei uns haben. Und nach Syrien kommen sie jetzt nicht mehr so leicht. Also müssen sie ihre Einstellung ändern. Bei Hasspredigern stoßen wir mit unseren Mitteln aber an Grenzen. Ein Großteil der Anzeigen (gegen die IS-Sympathisanten) kommt von den eigenen Familien. Die wollen ihre Kinder aus den Fängen des IS retten und sie nicht in Särgen zurückkriegen.

Verein Neustart: 1591 Bewährungshelfer im Einsatz

Angebote Bei Neustart arbeiten 583 hauptamtliche und 1008 ehrenamtliche Bewährungshelfer (über 60 Prozent Frauenanteil). Angebote: Tatausgleich (14.367 Klienten, davon 6000 Opfer), Prozessbegleitung für Opfer, Haftentlassenenhilfe (2006 bekamen 33 Prozent Bewährungshilfe, 2015 waren es 56 Prozent), Vermittlung gemeinnütziger Leistungen statt Haft (4000 Klienten), Betreuung im elektronisch überwachten Hausarrest (781 Klienten) und klassische Bewährungshilfe (14.905 Klienten).

Zahlen 2006 gab es in ganz Österreich 43.414 strafgerichtliche Verurteilungen, 2015 waren es nur noch 33.667, ein Rückgang um 23 Prozent. Die Diversion (Alternativen zur Strafe) ging um 48 Prozent zurück, von 51.801 auf 27.033 Fälle.

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