Zeitzeuge erzählt: Meine Flucht vor den Nazis aus Österreich
Mehr als 162 Jahre nach der Eröffnung der Synagoge Kobersdorf fand in dieser Woche wieder eine Veranstaltung in den altehrwürdigen Gemäuern statt. Zum Gedenktag für die ehemaligen „Sieben Gemeinden“ des Burgenlandes ist auch der 87-jährige Michael Riegler aus Israel angereist. Im Interview mit Historiker Gert Tschögl von der Burgenländischen Forschungsgesellschaft nimmt er die Besucher mit auf eine bewegende Zeitreise.
„Ich schreibe auf Deutsch, ich lese auf Deutsch, aber ich spreche es selten“, sagt der 87-Jährige zu Beginn, übrigens in schönstem Hochdeutsch. Seit seinem zehnten Lebensjahr lebt er in Israel. „So lange meine Eltern gelebt haben, habe ich mit ihnen Deutsch gesprochen.“ Das sei gute 40 Jahre her, erinnert sich der Zeitzeuge zurück an die Flucht aus dem nationalsozialistischen Österreich.
Es war das Jahr 1896, in dem Rieglers Vater Theophil Leopold Riegler in Kobersdorf geboren wurde. Später führte er eine Eisenhandlung. Als er 1931 Wilhelmine Fried heiratete, zog er zu ihr nach Frauenkirchen, dort betrieb das Paar eine Gemischtwarenhandlung. Sohn Michael wurde 1934 geboren, es folgten die Töchter Henriette und Rifka (Regina). Lange konnte die Familie dort nicht bleiben. „1938 hat man uns vertrieben, wir flohen nach Wien.“
Dort lebte die Familie in einer Wohnung im zweiten Bezirk. „Eines Tages kam mein Vater nach Hause, mit Blut am Kopf und am Körper. Er hat gesagt, er ist gefallen. Aber die Wahrheit war, dass ihn die Hitler-Jugend, geschlagen hat. Nachher haben die Nazis meinen Vater nach Dachau (in das Konzentrationslager, Anm.) geschickt.“
Irrfahrt auf dem Meer
1939 wurde er entlassen und acht Monate später wieder deportiert, präzisiert Tschögl: Theophil Leopold Riegler kam in das polnische Nisko, wo die Nationalsozialisten den Plan zur Errichtung eines ,Judenreservats‘ verwirklichen wollten. Diese Transporte markieren den Beginn der Shoah, also den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas.
Die ehemalige Synagoge Kobersdorf erstrahlt seit Kurzem nach eineinhalbjähriger Sanierung in neuem Glanz. Das ehemalige jüdische Gebetshaus fungiert nun als Kultur-, Wissenschafts- und Bildungszentrum mit Schwerpunkt auf jüdischer Kultur und Geschichte. Die Restaurierung haben Misrachi Österreich, das Land und die Burgenländische Forschungsgesellschaft zum Anlass genommen und zu einem Gedenktag geladen.
Alfred Land von der Forschungsgesellschaft verschaffte den Besuchern einen Überblick über die jüdischen Gemeinden des Landes. Damit seien meist die „Sieben Gemeinden“ (hebräisch: Sheva Kehillot) gemeint. „Also jüdische Gemeinden, die sich durch Duldung der Fürsten Esterházy gründen und entwickeln konnten“, erläutert Lang.
Sogenannte „Schutzbriefe“ haben gegen Entrichtung von Abgaben an die Fürstenfamilie den Aufbau von Gemeindestrukturen wie Friedhöfe, Synagogen oder Gerichtsbarkeit ermöglicht und die Entfaltung eines wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Lebens ermöglicht. Die „Sieben Gemeinden“ sind Kittsee, Frauenkirchen, Eisenstadt, Mattersdorf (später Mattersburg), Kobersdorf, Lackenbach und Deutschkreutz.
Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurden Ende 1938 die jüdischen Gemeinden aufgelöst, Besitz geraubt oder beschlagnahmt und die Bevölkerung vertrieben. Im März 1938 kam es zur Schändung der Synagoge Kobersdorf durch die Nazis, das Gebäude wurde ein SA-Heim. 1948 war die Synagoge an die IKG restituiert worden, ein Jahr später wurde sie an einen Verein verkauft. Seit 2019 ist das Land Eigentümerin.
Rund 8.000 Juden lebten zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Burgenland, 1938 waren es nur noch rund 3.900. Etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung im Burgenland wurde Opfer der Shoah. Nur wenige kehrten nach dem Krieg zurück und blieben.
„Das Lager wurde 1940 aufgelassen. Michaels Vater war einer der etwa 200 von insgesamt 1.500 nach Nisko verschleppten Männer, die lebend nach Wien zurückgelangten“, erklärt Tschögl. Dann die nächste Flucht, erinnert sich der Michael Riegler zurück. „Von Wien mit dem Donaudampfer bis zum Schwarzen Meer, nach Tulcea (Rumänien, Anm.).“ Dort sollten die drei griechischen, hochseetauglichen Schiffe Atlantic, Pacific und Milos die Flüchtlinge aufnehmen. Etwa 3.500 Juden warteten damals auf die Abfahrt, erzählt der Zeitzeuge.
Die Schiffe wurden von jüdischen Organisationen angeheuert, mit dem Ziel, die von den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Familien auf illegalem Weg nach Palästina zu bringen, so Tschögl.
Familie Riegler war mit rund 1.500 anderen Personen an Bord der Atlantic. Am 7. Oktober 1940 verließen sie Tulcea. Wochenlang irrte das Schiff auf dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer umher, in der Hoffnung, Palästina zu erreichen. Die Familie war im Frachtraum untergebracht. „Wir haben keine Fenster gehabt und haben nichts gesehen. Es herrschte Hunger, das Schiff ist manchmal seitlich gekippt (weil es überladen war, Anm.) Leute wurden krank, manche sind gestorben.“ Weil die Toten nicht an Bord bleiben konnten, wurden sie dem Meer übergeben. „Das war für uns Kinder besonders schlimm.“
Im November 1940 kam das Schiff in Haifa an. Aber auch dort konnten die Flüchtlinge nicht bleiben, wie der britische Hochkommissar in Palästina verfügt hatte. „Aus diesem Grund stand im Hafen die Patria bereit, um die ankommenden Flüchtlinge weiter zu transportieren“, erklärt der Historiker.
„Um das Auslaufen der Patria zu verhindern, wollte die Haganah (eine zionistisch-paramilitärische Untergrundorganisation in Palästina, Anm.) das Schiff fahruntauglich machen und legte eine Bombe auf der Patria.“ Das Schiff sank, 200 Menschen ertranken. Während die Überlebenden in Palästina bleiben durften, wurden die auf der Atlantic wartenden Flüchtlinge – darunter Familie Riegler – Ende Dezember 1940 auf die Insel Mauritius deportiert.
Langer Weg nach Isreal
„Dort waren meine Mutter, meine Schwestern und ich getrennt vom Vater untergebracht. Ich habe ihn ein Jahr lang nicht gesehen.“ Die Flüchtlinge lebten in Gefängnissen unter katastrophalen Bedingungen. Nach Kriegsende ging die Familie nach Palästina. Der Vater bekam eine Anstellung in einer Fabrik. Die Kinder lernten Hebräisch. Für sie war sofort Palästina, später dann Israel ihre neue Heimat.
Riegler studierte Judaistik und Bibliothekswesen und wurde Bibliothekar der Israelischen Nationalbibliothek. Er lebt heute in Jerusalem.
Er sei aufgeregt, dass er nun zu Besuch in Kobersdorf ist. Dass die ehemalige Synagoge „so schön“ restauriert wurde, freue ihn sehr. „An diesem Ort, hier in der Synagoge, hier sind auch mein Großvater und mein Vater gewesen.“ Sein Großvater ist hier am jüdischen Friedhof Kobersdorf begraben.
„Meine Frau“, sagt Riegler, „ist vor vier Jahren gestorben.“ In den gemeinsamen sechs Kindern, 28 Enkeln und 27 Urenkeln lebt die Familie, die ihre Wurzeln im Burgenland hat, nun im Heiligen Land weiter.
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