"Habe Angst vor dem Hass"
Tobias Mindler, Rot-Kreuz-Sprecher, spricht im KURIER-Interview über die Herausforderungen.
KURIER: Rund 250.000 Flüchtlinge sind in der Zeit von August bis Oktober in Nickelsdorf über die Grenze gekommen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Tobias Mindler: Es war mein bisher schwerster Einsatz. Dass so viele Flüchtlinge kommen würden, damit haben wir am Anfang gar nicht gerechnet. Im Mai sind die ersten in Nickelsdorf angekommen. Das waren vielleicht ein paar hundert pro Tag. Ab Anfang September ging es dann richtig los.
Richtig los hieß 10.000 und mehr pro Tag. Was bedeutete das für das Rote Kreuz? Ja, 10.000 und mehr pro Tag. Am stärksten Tag kamen innerhalb von 24 Stunden fast 20.000 Menschen an. Ganz ehrlich: Für solche Dimensionen war das Rote Kreuz nicht gerüstet. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass diese Intensität über Monate hinweg anhalten würde. Aber durch die Zusammenarbeit mit dem Bundesstab – ab September haben wir Unterstützung aus allen Bundesländern bekommen – hat es hervorragend geklappt. Und nicht zu vergessen: Die Bevölkerung hat uns großartig unterstützt.
Was war am schwierigsten? Jeden Tag Tausende Menschen zu versorgen. Über Monate hinweg die Versorgung sicherzustellen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das war das Wichtigste. Es gab zum Glück nur einmal die Situation, dass sich Flüchtlinge auf der Straße in wirklich großer Anzahl auf den Weg Richtung Wien machten. Aber das hatte die Polizei schnell im Griff. Überhaupt hat uns die Polizei unsere Arbeit ungemein erleichtert. Die Zusammenarbeit der Einsatzorganisationen vor Ort hat tadellos funktioniert – und nur so kann das gelingen.
BBC, New York Times und viele andere Medien standen Schlange für ein Interview mit Ihnen. Wird man da nie müde? Natürlich. Es gab Tage, da hatte ich gerade einmal zehn Minuten Pause. Aber wenn man voll und ganz hinter dem steht, was man tut, macht man es auch gerne. Ich bin stolz, dass ich für das Rote Kreuz arbeiten darf. Und ich glaube, es gibt keine andere Organisation, die das so gut bewältigen hätte können – allein von der Dimension her.
Stichwort Bruckneudorf: Wenn in einer Gemeinde Flüchtlinge untergebracht werden sollen, mehren sich negative Stimmen. Was sagen Sie denen? Naja, ich denke, dass man Sorgen und Ängste durchaus ernst nehmen sollte. Andererseits darf man aber auch nicht jeden Blödsinn glauben, den man irgendwo von polemisch auftretenden Hasspredigern liest. Ich wurde oft gefragt, ob ich keine Angst vor Flüchtlingen habe. Nein, habe ich nicht. Aber ich habe Angst vor dem Hass in der österreichischen Gesellschaft. Es ist ein Wahnsinn, was da im Internet abgeht. Da werden Lügen verbreitet und das finde ich dramatisch. Nicht einmal anonym, sondern mit Namen. Das hat mittlerweile eine andere Dimension erreicht. Auch beim Roten Kreuz, wie ich zugeben muss.
Inwiefern? Wir haben uns von Mitarbeitern getrennt, weil sie fremdenfeindliche Aussagen gemacht haben. Das waren zwar nur Einzelfälle, aber es hat mich persönlich doch sehr überrascht und auch getroffen. Denn jeder dieser Fälle ist ein Fall zu viel. Das Rote Kreuz ist eine Werte-basierte Gemeinschaft. Wir sind neutral und zur Unparteilichkeit verpflichtet. Unsere Aufgabe ist, Menschen, die Hilfe brauchen, zu betreuen, unabhängig vom Herkunftsland.
Sie haben viele Schicksale erlebt. Was tun Sie, um nicht auszubrennen? Natürlich gingen mir einige Dinge sehr nahe. Manchmal bin ich mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren. Ich schäme mich nicht dafür. Das ist menschlich, obwohl man versucht, möglichst professionell damit umzugehen. Ich lasse mich coachen, gehe regelmäßig zur Psychotherapeutin. Auch gutes Essen und Bewegung in der Natur sind meine Kraftquellen. Und ganz wichtig: Freunde und Familie.
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