"Lange Zeit hat man sich nur die Bilder der Ansichtskarten angeschaut. In den 20 Jahren, die ich beim Landesarchiv tätig bin, hat noch nie irgendjemand nach den Rückseiten und den Texten gefragt. Aber ich habe mir gedacht, das wäre doch interessant", erzählt Evelyn Fertl dem KURIER. Das Ergebnis ihrer jahrelangen Arbeit liegt nun in Buchform vor.
Warum hat man diese Karten verschickt?
Die Forscherin nahm sich jede einzelne von anfangs 1.700 Postkarten vor – die Sammlung sollte noch um weitere 900 Exemplare anwachsen. "Mich hat vor allem interessiert: Warum hat man die Karte hergestellt, warum hat man sie verschickt und warum hat man sie gesammelt?", erklärt Evelyn Fertl ihren Forschungszugang.
Eine zentrale Erkenntnis von Fertls Bemühungen: Postkarten waren in Deutschwestungarn ein Mittel zur Alltagskommunikation. Das Telefon war zwar schon erfunden, aber noch lange nicht in der allgemeinen Bevölkerung verbreitet. So wurden Postkarten auch mit eher trivialen Inhalten, wie der Bitte um Geld, verschickt. Im Jahr 1914 wurde beispielsweise von Nickelsdorf nach Wien geschrieben: "Bitte der Vater soll uns noch einen Gulden schicken."
Die Postkarten lassen viele Rückschlüsse auf das tägliche Leben der "einfachen Leute" zu, wie Evelyn Fertl erkannte: "Damit erreicht man Gesellschaftsschichten, die in anderen historischen Quellen unterrepräsentiert sind."
Gerade diese Tatsache erschwerte es aber auch, den Inhalt mancher Botschaften zu erfassen: Die Texte sind großteils in Kurrentschrift, in verschiedenen Dialekten, Sprachen und mit vielen Rechtschreibfehlern verfasst. Bei Härtefällen holte Evelyn Fertl Expertenrat ein – teils in der eigenen Familie: "Ich hatte eine Geheimwaffe, meine Mama. Sie hat in der Schule noch Kurrent gelernt."
Influencer gab es schon viel früher
Auch tagesaktuelle Nachrichten wurden per Postkarte ausgetauscht – beispielsweise über einen verheerenden Brand in Eisenstadt am 26. Juli 1904. "Unser Entsetzen wird immer größer; beim Lesen der Brandkatastrophe überkruselt es einem", steht auf einer aus Sauerbrunn verschickten Karte geschrieben.
Eine nicht zu unterschätzende Funktion, die Ansichtskarten zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfüllten, ist laut Evelyn Fertl die der Selbstdarstellung: Die Einführung eines gesetzlichen Urlaubsanspruches ermöglichte es langsam auch Menschen aus der Mittelschicht, kurze Urlaube und Ausflüge zu unternehmen – was man zwecks gesellschaftlicher Geltung auch dem persönlichen Umfeld mitteilen wollte.
Das gefiel nicht jedem. Ein Text des Feuilletonisten August Schacht aus dem Jahr 1898 erinnert verdächtig an Kritik, wie sie heute gerne an Reise-Influencern geübt wird. Er mutmaßt, dass so mancher Ausflug nur dem Zweck diente, eine Ansichtskarte verschicken zu können:
"Macht man mit einer Gesellschaft einen Ausflug, so ist das erste: 'Kellner, Postkarten mit Ansicht!' Dann wird geschrieben und geschrieben, und endlich mahnt die Zeit zum Aufbruch. Man hat zwar nichts von den Naturschönheiten gesehen, dafür hat man aber Ansichtskarten versandt, und der Empfänger kann wenigstens auf den Gedanken kommen, daß der Absender die Gegenden auch wirklich bewundert hat."
Zeichen der Zeit
Einige der historischen Postkarten zeigen auch negative Entwicklungen, wie antisemitische Tendenzen, im damaligen Deutschwestungarn auf. So beklagt sich der Verfasser einer aus Frauenkirchen abgeschickten Karte beiläufig: "Hier in Fraukirchen sind soviel jüdische Geschäftsleute, die heute ihren Schabbes halten daß es mir bald wie in der Judenstadt Jassy in Rumänien vorkommt. Trotzdem ist es ein Wallfahrtsort. Otto."
Im umfangreichen Bildteil von Evelyn Fertls Buch sind 102 der interessantesten Postkarten abgebildet und vollständig transkribiert. Eine aufschlussreiche, oft amüsante und manchmal auch erschreckende Lektüre aus einer Zeit, in der das Burgenland erst zu sich selbst finden musste.
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