Das akademische Ei(d)land
Frühsommer, in Zürich steht die Luft und trotzdem kommen sie fast alle in Anzug, Hemd und Krawatte, um ihr Master-Diplom entgegen zu nehmen. Die Dame, die einen ETH Zürich Studenten nach dem anderen aus dem voll besetzten Hörsaal aufruft, hat den schwersten Job des Nachmittags: Name reiht sich an Name – koreanische, indische, chinesische, griechische, auch einen österreichischen gilt es richtig auszusprechen.
Eines ist klar. Hier, an einer der besten Hochschulen der Welt, ist Internationalität täglich gelebter Alltag. Doch seit der Annahme der "Masseneinwanderungsinitiative" vom 9. Februar 2014 ist die Zugehörigkeit der Schweiz zum europäischen Hochschulraum infrage gestellt. Der Grund: Die Schweizer haben in Folge der Abstimmung die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien nicht unterzeichnet und die EU hat reagiert: Getroffen hat es die, die wohl am wenigsten Auslöser des Schweizer Überfremdungsangst-Problems sind: Studierende, die ein Semester an einer Uni in Europa verbringen wollen. Weder beim Austauschprogramm Erasmus+ noch beim Forschungsprogramm Horizon 2020 dürfen die Schweizer nun dabei sein.
Nicht ohne Schweiz
Der Aufschrei darüber blieb schweizerisch zurückhaltend. Zwar unterzeichneten auf www.not-without-switzerland.org sofort 394 hochrangige Akademiker einen Appell für einen offenen europäischen Hochschulraum und der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) sprach vom "vorläufigen Tod für die internationale Dimension der Schweizer Hochschullandschaft". Aber es gab auch Stimmen, die nicht traurig waren über das Erasmus-Ende. Denn die Schweiz setzt auf Exzellenz – nicht jeder ist hier willkommen. Auch nicht auf Austauschbasis. "Erasmus+? Das interessiert hier keinen", sagt eine Schweizer Doktorandin.
Swiss Mobility
Warum der Gleichmut? Einerseits, weil der Schweizer Bundesrat an einer Ersatzlösung bastelte, die bereits steht. Mit 18,6 Millionen Euro deckt man 2014 die durch das Erasmus-Ende anfallenden Kosten und nehme nun als Drittstaat teil. Andererseits, weil die Schweizer ohnehin als wenig mobil gelten. Nur jeder fünfte Absolvent verbringt mindestens ein Semester im Ausland – Tendenz auf Master-Stufe sogar leicht sinkend, wie die aktuellsten verfügbaren Zahlen aus 2011 zeigen. Als häufigstes Hindernis nennen Studierende die finanzielle Mehrbelastung (49,8%). Gerade in der reichen Schweiz gibt es wenig Stipendien: Über 60 Prozent lassen sich den Auslandsaufenthalt von den Eltern finanzieren, nur 8,3 Prozent bekommen Stipendien – in Österreich sind es 24,9 Prozent, in Schweden sogar 60,6 Prozent (siehe Grafik).
Herbe Enttäuschung
Trotzdem: An den Schweizer Hochschulen ist die Enttäuschung groß. Denn es geht um viel, auch um viel Geld. Vor allem was das Forschungsprogramm Horizon 2020 betrifft und die Vergabe der ERC Grants, bei der die Schweizer immer überdurchschnittlich gut abschnitten. Dass Erasmus+ nun durch das "Swiss-European Mobility Programme" ersetzt wird bedeutet für die Universitäten vor allem mehr Arbeit. Denn nun müssen bilaterale Verträge abgeschlossen werden. "Die ETH Zürich hat es inzwischen geschafft, den allermeisten ihrer Studierenden einen Studienplatz an einer europäischen Gastuniversität zu vermitteln. Das konnte allerdings nur mit einem erheblichen Mehraufwand erreicht werden. Die Nicht-Beteiligung an Erasmus+ hat den studentischen Austausch somit erheblich verkompliziert, aber zum Glück bislang nicht unmöglich gemacht", sagt Roman Klingler von der ETH Zürich. "Der Studierendenaustausch per se ist nicht direkt betroffen, da die HSG direkte Abkommen mit ihren 170 Partneruniversitäten hat", weiß Marius Hasenböhler von der Universität St. Gallen (HSG), die jährlich rund 200 Studierende mit Erasmus ins Ausland schickt. Einig ist man sich in dem Wunsch, dass die Schweiz möglichst ab 2015 wieder vollwertig an Erasmus+ teilnehmen soll. Klingler: "Für die ETH ist es essenziell, den Wettbewerb und den Austausch mit Hochschulen und Forschungsinstitutionen in Europa zu pflegen." Denn eines ist klar: Selbst die exzellente akademische Insel braucht hin und wieder Besucher.
Grafik: Wer den Aufenthalt zahlt
Nach dem „Ja“ der Schweizer zu Zuwanderungsbeschränkungen hat die EU Erasmus+ und Horizon 2020 vorläufig gestoppt. Der Studierenden-Austausch mit der Schweiz muss nun im „Swiss-European Mobility Programme“ mit bilateralen Verträgen weitergeführt werden.
Erasmus+ Das auf sieben Jahre ausgelegte Austausch-Programm verfügt über ein Budget von 14,7 Milliarden Euro und ermöglicht vier Millionen Europäern Studium, Ausbildung, Praktika oder Freiwilligentätigkeit im Ausland. 2012/’13 haben 120 in der Schweiz immatrikulierte Studierende einen Erasmus-Aufenthalt in Österreich für Studienzwecke absolviert, der Großteil davon (41) an der Uni Wien.