Totgesagte leben länger: Die Globalisierung steht an einem Wendepunkt
In einem Punkt sind sich Kritiker und Befürworter der Globalisierung wohl einig: Die Verflechtung von Wirtschaftsströmen hat das Leben nahezu aller Menschen auf der Welt beeinflusst. Doch die Corona-Pandemie und nun der Ukraine-Krieg haben der Globalisierung schwer zugesetzt, als klar wurde, dass zwar Handelsbarrieren ab-, aber auch immer mehr Abhängigkeiten aufgebaut wurden. Die immer komplexeren Lieferketten brachten mehr Effizienz - und mehr Risiko.
Lieferengpässen
Schon während der Pandemie hatten Firmen weltweit mit Lieferengpässen zu kämpfen. Der Ukraine-Krieg verschärft diese Probleme weiter: mit steigenden Energiepreisen, fehlenden Vorprodukten und einem drohenden Ausfall von Getreideexporten.
Der Vorstandsvorsitzende der Investmentgesellschaft BlackRock, Larry Fink, fand in einem Brief an Anleger klare Worte: "Die russische Invasion in der Ukraine hat der Globalisierung, wie wir sie in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben, ein Ende bereitet". Schon in der Pandemie seien die Verbindungen zwischen Ländern, Unternehmen und Menschen unter Druck geraten.
"Die 30 glorreichen Jahre der Globalisierung sind vorbei. Die Idee eines weltweiten Marktes müssen wir beerdigen", sagte der Wifo-Chef Gabriel Felbermayr der "Augsburger Allgemeinen" (Donnerstagsausgabe). Die Weltwirtschaft zerfalle nun wieder in einzelne Blöcke des Westens, einen von China dominierten Einflussbereich, das sich zunehmend emanzipierende Indien und ein sich isolierendes Russland.
Finanzmarktkrise
"Schon seit der Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und 2009 steht fest, dass die Hyper-Globalisierung vorbei ist", sagte der frühere Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). "Spätestens seit dem Wirtschaftskrieg des Donald Trump und der Invasion der Russen ist klar, dass vermutlich ein neuer Eiserner Vorhang zwischen dem Westen und dem russischen Einflussgebiet herabgelassen wird."
"Bevölkerung zahlt Zeche für Politik"
Felbermayr kritisierte die deutsche Politik der vergangenen Jahre: "Hier haben wenige Leute aus Energiewirtschaft und Politik in Deutschland die falsche Entscheidung getroffen, sich derart von Russland abhängig zu machen", sagte der Experte der Zeitung. Dieses hohe Maß an Abhängigkeit widerspreche allen ökonomischen Grundlehren. "Die Bürgerinnen und Bürger zahlen jetzt die Zeche für diese Politik." Österreich ist verhältnismäßig noch abhängiger von russischem Gas als Deutschland.
Bereicherungen
An dem Geschäftsmodell hätten sich vor dem Krieg in der Ukraine viele Menschen in Österreich, Deutschland und Russland bereichert, sagte Felbermayr weiter. Die deutsche Bevölkerung habe das Recht zu erfahren, wer in der Regierung hier welche Entscheidungen befördert habe.
Die US-Finanzministerin Janet Yellen sieht das anders. "Wir sind tief verbunden mit der Weltwirtschaft", sagte Yellen in einem Interview mit dem US-Fernsehsender "CNBC". Sie verweist noch einmal auf die Vorteile: "Diese Verbindung hat den USA und vielen anderen Ländern auf der Welt Gewinne gebracht".
Globalisierung ins Stolpern geraten
Doch die Globalisierung ist durch Pandemie und Krieg zumindest ins Stolpern geraten: Sinnbildlich dafür stehen die Engpässe bei der Versorgung mit medizinischen Masken zu Beginn der Pandemie, die die weltweite Abhängigkeit von chinesischen Firmen ins Schlaglicht rückten. Der Ukraine-Krieg weckt nun die Furcht vor Nahrungsmittelengpässen und offenbart die Abhängigkeit Europas und insbesondere Deutschlands von russischen Energieimporten.
"Eine Vielzahl von Verwundbarkeiten" seien sichtbar geworden, sagt der ehemalige Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy. Lieferketten seien immer komplexer geworden und der Welthandel immer verflochtener.
Die EU und die USA haben bereits reagiert: Das Stichwort lautet strategische Autonomie und betrifft beispielsweise die Herstellung von Halbleitern. Sie sind nötig für unzählige Technologieprodukte- sowohl die USA als auch die EU wollen nun eigene Chipproduktionen auf ihrem Gebiet haben.
Keinen "radikalen Wandel" bei Produktionsstätten
Die Pandemie habe noch keinen "radikalen Wandel" bei der Verlagerung von Produktionsstätten ausgelöst, sagt Ferdi De Ville vom Ghent Institut für Internationale und Europäische Studien in Belgien. Der Ukraine-Krieg verändere jedoch, "wie Unternehmen über ihre Investitionsentscheidungen und Lieferketten nachdenken".
Sanktionen, die noch vor wenigen Monaten als unvorstellbar galten, seien nun realistisch. Ziel sei es nun, wirtschaftliche Abhängigkeiten auf Verbündete zu verlagern. Felbermayr sieht bereits die Weltwirtschaft bereits wieder zerfallen - in einzelne Blöcke des Westens, einen von China dominierten Einflussbereich, das sich zunehmend emanzipierende Indien und ein sich isolierendes Russland.
China, zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, wird die Zukunft der Globalisierung entscheidend beeinflussen. Seitdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump im Jahr 2018 einen offenen Handelskrieg mit der Volksrepublik begann, erhob auch sein Nachfolger Joe Biden "Buy American" zum Prinzip seiner Politik. Die unklare Rolle Chinas im Ukraine-Krieg und ein möglicher Angriff auf Taiwan könnten zu weiteren wirtschaftlichen Verwerfungen führen.
"Noch liegt es nicht im chinesischen Interesse, mit dem Westen in einen Wettbewerb zu treten", sagt der Portfoliomanager der Investmentgesellschaft Edmond de Rothschild, Xiaodong Bao. Der Ukraine-Krieg biete aber eine Chance für China, seine Abhängigkeit vom Dollar zu verringern.
Laut "Wall Street Journal" spricht Peking etwa schon mit Saudi-Arabien, um künftig Öl in chinesischen Yuan anstatt in Dollar zu bezahlen. "China wird sich weiter ein Fundament für die Zukunft aufbauen", sagt Bao. "Die finanzielle Entkopplung gewinnt an Geschwindigkeit".