Ein 66-jähriger Ex-Banker ist die Geheimwaffe von Italien bei der EM
Von Christoph Geiler
Es lässt sich trefflich darüber streiten, wer denn der wichtigste Spieler der Squadra Azzurra ist. Überhaupt jetzt, wo der arme Leonardo Spinazzola nach seinem Achillessehnenriss bei dieser EM nicht mehr mitwirken kann.
Sind die Abwehrrecken Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci das Herzstück dieser Mannschaft, die seit 32 Partien nicht mehr verloren hat? Oder Jorginho, der Taktgeber im Mittelfeld, der die einfachen Pässe zur Kunstform erhebt? Ist es gar Stürmer Ciro Immobile, der, wie sich Millionen Fußballfans im Viertelfinale gegen Belgien mit eigenen Augen versichern konnten, die Wunderheilung im Repertoire hat?
Kleiner Zauberer
Geht es nach den Experten, dann befindet sich einer der wichtigsten Mitspieler und Ideengeber dieser italienischen Nationalmannschaft gar nicht auf dem Platz, sondern sitzt im Verborgenen auf der Trainerbank: Gianni Vio.
Gianni wer? Gianni was? Gianni wie?
Gianni Vio, 66, ein ehemaliger Bankangestellter aus Mestre bei Venedig, ist der Mann, der dieser Tage in den Medien gerne als Italiens „Geheimwaffe“ oder als „kleiner Zauberer“ bezeichnet wird. Dem Glatzkopf werden in der Fußballszene außergewöhnliche Fähigkeiten nachgesagt: Gianni Vio gilt seit Jahren als Großmeister der Freistoßtricks und Eckballvarianten. Den Großteil seines Lebens hat sich der Fußballliebhaber den sogenannten Standardsituationen verschrieben und mit dem Psychologen Alessandro Tettamanzi ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht: „That extra 30 Percent“.
Psychologische Tricks
Gianni Vio ist der Überzeugung, dass ein Fußballteam allein durch kreative, facettenreiche einstudierte Standards seine Torausbeute fast um ein Drittel steigern kann. „Es ist, als hätte man einen weiteren Stürmer.“
Diese These wird durch die nackten Zahlen bestätigt. Die Mannschaften, bei denen Vio in der Vergangenheit in Italien und in England engagiert war, erzielten auffällig viele Treffer nach ruhenden Bällen. Bei Erstligist Catania betrug die Quote in der Saison 2011/’12 57,4 Prozent.
Verständlich, dass der italienische Teamchef Roberto Mancini den Standard-Guru unbedingt in seinem Trainerstab haben wollte. Und wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, dass nun gerade vor der entscheidenden Phase dieser EM plötzlich in der Öffentlichkeit über den mysteriösen Signore Vio gesprochen wird. Das ist wohl ein Stück weit auch Taktik und Kalkül vor dem brisanten Duell mit Spanien im Wembley-Stadion.
Bislang sind die Italiener bei dieser EM zwar durch die eine oder andere ungewöhnliche Freistoßvariante aufgefallen, ein Tor nach einem ruhenden Ball ist aber nur beim 1:0 gegen Wales geglückt.
An den fehlenden Optionen wird’s nicht scheitern. Gianni Vios Standardwerk ist beeindruckend, laut eigenen Angaben hat er knapp 5.000 unterschiedliche Variationen im Repertoire.
Wobei es bei all den ruhenden Bällen vor allem um eines geht: Verwirrung stiften und für Ablenkung sorgen. „90 Prozent“ seiner Arbeit sei laut Vio „reine Psychologie“.