Politik/Ausland

Luftangriffe erschüttern Mykolajiw, "katastrophale" Lage in Mariupol

Tag 24 nach dem russischen Angriff: 

Die russischen Streitkräfte haben am Samstag nach Angaben der Regionalregierung ihre Luftangriffe auf die südukrainische Stadt Mykolajiw verstärkt. Bei einem russischen Luftangriff auf eine Militärkaserne im südukrainischen Mykolajiw wurden Augenzeugen zufolge Dutzende Menschen getötet. "Nicht weniger als 200 Soldaten schliefen in den Baracken", sagte der 22-jährige Soldat Maxim der Nachrichtenagentur AFP am Samstag, einen Tag nach dem Raketenangriff. "Mindestens 50 Leichen wurden aus den Trümmern gezogen, aber wir wissen nicht, wie viele dort noch liegen." Die Rettungsarbeiten dauerten an. 

Die Russen "führten feige Raketenangriffe auf schlafende Soldaten durch", hatte der Regionalgouverneur von Mykolajiw, Vitali Kim, zuvor am Samstag in einem im Onlinenetzwerk Facebook veröffentlichten Video erklärt. Er warte auf Informationen über Verluste der ukrainischen Streitkräfte. Ein weiterer Soldat vor Ort sagte AFP, der Angriff könnte 100 Menschen getötet haben. "Wir zählen weiter, aber angesichts des Zustands der Leichen ist es fast unmöglich, die Zahl festzustellen", sagte einer der Rettungskräfte.

Der Bürgermeister von Mykolajiw, Oleksij Senkewjtsch, sagte ukrainischen Medien, dass die Stadt, die vor dem Krieg fast eine halbe Million Einwohner zählte, aus der benachbarten, von Russland kontrollierten Region Cherson bombardiert worden sei.

Klitschko bittet um weitere Waffenlieferungen

Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko rief die westlichen Verbündeten indes zu weiteren Waffenlieferungen auf. "Bitte, unterstützen Sie uns", meinte der frühere Profiboxer im Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera. Die europäischen Verbündeten und die NATO seien angehalten, benötigte Waffen für die Verteidigung des Luftraumes über Kiew zu schicken. "Wir sind in der Lage, unseren Luftraum selbst zu schließen", fuhr der 50-Jährige fort. "Aber wir müssen auf jeden Fall die richtigen Waffen bekommen."

Klitschko zufolge verzeichnet Kiew mittlerweile mehr als 200 getötete Zivilisten. Ungefähr zwei Millionen Bewohner seien in der Stadt geblieben. "Vergesst nicht, dass wir unser Land verteidigen, aber gleichzeitig auch die fundamentalen Werte der europäischen Demokratie", betonte Klitschko. "Meine Botschaft ist klar: Bitte stellen Sie jegliche wirtschaftliche Beziehung mit Russland ein, weil Putin jeden Euro nutzt, um sein Militär zu verstärken, das auf uns zumarschiert", forderte er.

Bisher mindestens 847 Zivilisten getötet

In der Ukraine sind nach UN-Angaben bis zum Freitag mindestens 847 Zivilisten seit Beginn der russischen Invasion getötet worden. Mindestens 1.399 Nicht-Kombattanten seien verletzt worden, teilt das UN-Büro für Menschenrechte mit. Die meisten Menschen seien durch Artilleriefeuer oder Raketeneinschlag getötet worden. Die UN erklären, sie gehen von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus, da Berichte über viele Todesfälle in umkämpften Städten nicht überprüft werden konnten.

Kämpfe um Flughafen bei Cherson

Der Flughafen Tschornobajewka bei Cherson im Süden der Ukraine steht nach ukrainischer Darstellung weiterhin im Mittelpunkt erbitterter Kämpfe. "Wir haben sie dort schon wieder getroffen", schrieb Olexij Arestowitsch, Berater des Büroleiters von Präsident Wolodimir Selenskij, am frühen Samstagmorgen auf Facebook mit Blick auf die russischen Truppen.

Die ukrainischen Streitkräfte hätten das russische Militär an diesem Flughafen bereits das sechste Mal überfallen und dem Gegner dort schwere Verluste zugefügt. In einer Serie von lokalen Gegenangriffen und Attacken mit Kampfdrohnen seien seit Ende Februar mehrere Dutzend russische Kampfhubschrauber sowie zuletzt auch ein Gefechtsstand mit ranghohen Offizieren zerstört worden. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

"Katastrophale" Lage in Mariupol

Auch die von russischen Truppen belagerte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer war weiter umkämpft. Von ukrainischer Seite hieß es am Samstag, sie habe "vorübergehend" den Zugang zum Asowschen Meer verloren. Die russische Armee hatte am Freitag erklärt, sie sei in die strategisch wichtige Stadt eingedrungen und kämpfe dort an der Seite von Truppen aus dem Separatistengebiet im ostukrainischen Donezk.

Ein Berater des ukrainischen Innenministeriums beschrieb die Lage in Mariupol als "katastrophal". Am Rande der Stadt gebe es Kämpfe um das Stahlwerk Asowstal, sagte der Berater Wadym Denysenko. "Eines der größten Stahlwerke Europas wird im Moment zu einer Ruine", sagte er.

Am Samstag schien es vorübergehend so, als ob die Hafenstadt kurz vor dem Fall stehen würde. Russische Einheiten sollen bereits von mehreren Seiten vorgestoßen sein. Mit der Einnahme Mariupols hätte Russland einen Landkorridor zwischen der 2014 von Russland annektierten Krim und den von prorussischen Separatisten gehaltenen Gebieten im Donbass. Russland hat seine Offensive in der Ukraine seit Freitag weiter verstärkt.

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Evakuierung Tausender weiterer Zivilisten

Kiew und Moskau haben am Samstag jeweils die Evakuierung Tausender weiterer Zivilisten aus besonders umkämpften Gebieten in der Ukraine gemeldet. Aus der belagerten Hafenstadt Mariupol seien am Samstag mehr als 4.100 Menschen geflohen, schrieb der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko, auf Telegram. Knapp 2.500 weitere Zivilisten seien aus den Regionen Kiew und Luhansk über sogenannte Fluchtkorridore in Sicherheit gebracht worden.

Die russische Seite berichtete am Abend über die Evakuierung von knapp 16.400 Menschen aus den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und anderen Teilen der Ukraine nach Russland. Aus dem Verteidigungsministerium in Moskau hieß es zudem, dass Hunderttausende Ukrainer den Wunsch geäußert hätten, nach Russland fliehen zu können. Der Stadtrat von Mariupol hingegen warf Moskau vor, bereits Tausende Zivilisten - vor allem Frauen und Kinder - gegen ihren Willen nach Russland gebracht zu haben.

Russische Hyperschall-Rakete zerstört Raketenarsenal

Die russische Luftwaffe hat nach Angaben aus Moskau mit der Hyperschall-Rakete "Kinschal" (Dolch) ein Raketenarsenal im Gebiet Iwano-Frankiwsk zerstört. Das unterirdische Munitionsdepot der ukrainischen Luftwaffe in Deljatyn im Südwesten der Ukraine sei am Freitag durch die ballistische Rakete vernichtet worden. Das sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konoschenkow, am Samstag.

Angriffe nahe Lemberg am Freitag

In der Nähe der Stadt Lemberg schlugen nach Behördenangaben am Freitag mehrere Raketen auf dem Gelände eines Flughafens ein. Auch ein Werk für Flugzeugwartungen sei getroffen worden. Das Gebäude sei zerstört worden, teilte Bürgermeister Andrej Sadowyj mit. Es habe keine Opfer gegeben. Der Betrieb in dem Werk sei gestoppt worden. 

Bürgermeister Sadowyj wirft internationalen Hilfsorganisationen mangelnde Vorbereitung auf den Krieg vor. "Nicht eine internationale Organisation war vorbereitet, obwohl seit einem halben Jahr alle von einem möglichen russischen Angriff geredet haben", sagte der Bürgermeister der Süddeutschen Zeitung. "Wahrscheinlich, weil die westlichen Analysedienste gesagt haben, dass der Krieg nur zwei Tage dauern und die Ukraine ohne Gegenwehr von den Russen besetzt werde." Bis heute gebe es keine "effektiven internationalen Notfallpläne".

Lemberg liegt nur rund 80 Kilometer von der Grenze zum NATO-Mitglied Polen entfernt. Die Stadt ist seit Kriegsbeginn am 24. Februar zu einem Sammelpunkt für Flüchtlinge, Diplomaten und Korrespondenten geworden. "In den ersten zehn Tagen haben wir alle Flüchtlinge aufgenommen, die hierbleiben wollten. Jetzt sind alle Hotels, Jugendherbergen und Wohnungen voll", sagte Sadowyj. "Wir haben die Menschen in etwa 500 Schulen, Turnhallen, Theatern, Kulturzentren oder Gemeindezentren untergebracht. Bei 200.000 Personen waren unsere Kapazitäten erschöpft." In der Region um die Stadt seien noch einmal so viele Menschen untergekommen.

Selenskij fordert von Moskau ehrliche Verhandlungen

Der ukrainische Präsident hat Russland zu ernsthaften und ehrlichen Friedensgesprächen aufgerufen. "Sinnvolle Verhandlungen über Frieden und Sicherheit für die Ukraine, ehrliche Verhandlungen und ohne Verzögerungen, sind die einzige Chance für Russland, seinen Schaden durch eigene Fehler zu verringern", sagte Selenskij am späten Freitagabend in einer Videoansprache.

China kritisiert Sanktionen gegen Russland

Einen Tag nach der Warnung von US-Präsident Joe Biden vor Militärhilfen für Russland hat China Sanktionen des Westens gegen die Regierung in Moskau in scharfen Worten kritisiert. "Die Sanktionen gegen Russland werden immer empörender", sagte der stellvertretende chinesische Außenminister Le Yucheng am Samstag in Peking. In Moskau erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow, die Beziehungen mit China würden stärker.

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