Politik/Ausland

Nightmare on Downing Street: Was, wenn Corbyn Premier wird?

Dass die Wahlergebnisse just am Freitag, den 13., veröffentlicht werden, ist schon ein symbolträchtiger Zufall. Zumindest für jene, die Sorge haben, dass Labour doch mehr Stimmen bei den britischen Parlamentswahlen abräumen könnten als gedacht – und Boris Johnson keinen Koalitionspartner findet. Dann nämlich könnte Jeremy Corbyn mit Unterstützung der Kleinparteien in die Downing Street 10 einziehen.

Corbyn ist mittlerweile für viele Briten zum Schreckgespenst avanciert. "Nightmare on Downing Street" titelte das konservative Magazin The Spectator, "Dangerous Hero" nannte ihn sein Biograf Tom Bower; und das, obwohl dem Labour-Chef vor zwei Jahren beim Glastonbury Festival noch "Oh, Jeremy Corbyn"-Sprechchöre entgegenschlugen.

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Vom Unter- zum Überschätzten

Was da passiert ist? Begonnen hat Corbyns Aufstieg damit, dass er stets unterschätzt wurde. Er, der Underdog, der seit 36 Jahren im Unterhaus sitzt und oft sogar für die eigene Partei zu links war, wurde völlig unerwartet Parteichef – weil die Jungen ihn per Grassroot-Votum ins Amt hievten. Dass der überzeugte Vegetarier und Radfahrer bei der Wahl 2017 das zweitbeste Ergebnis holte, das Labour jemals einfahren konnte, hatten auch nicht viele prognostiziert.

Damit kippte das Ganze aber auch: Der frühere überzeugte Marxist, der im früher schwer gebeutelten Arbeiterviertel Islington wohnt, wurde damit für viele junge Labour-Anhänger zur Erlösergestalt. Doch in einigen Punkten enttäuschte er seine Basis. Beim Brexit etwa, dem Thema dieser Wahl, fuhr er einen Zickzackkurs, der viele proeuropäische Wähler verprellte. Dass Corbyn, der zum dritten Mal verheiratet ist und einen zweifelhaften Ruf als Asket und Geizkragen genießt, sich mit Brüssel schwer tut, hätte man allerdings vorher wissen können. Der 70-Jährige gehörte immer dem höchst EU-skeptischen Lager an, schimpfte Brüssel immer "Hauptstadt der Konzernbosse".

Antisemitismus-Problem

Ähnlich problematisch gestaltete sich Corbyns Umgang mit dem Thema Antisemitismus. Seit Langem macht Corbyn sich für die Interessen der Palästinenser stark – deutlich zu einseitig, werfen ihm Kritiker vor. Dazu kommen Fauxpas wie Auftritte bei Veranstaltungen an der Seite von Hamas-Vertretern. Kürzlich tauchten Bilder von Corbyn auf, die ihn 2014 bei der Kranzniederlegung für mehrere vom Mossad getötete Drahtzieher des Olympia-Attentats von München 1972 zeigen. Palästinensische Terroristen hatten damals elf israelische Athleten und Trainer sowie einen deutschen Polizisten ermordet. Seine Rechtfertigung? Er sei "anwesend, aber nicht beteiligt" gewesen.

 

All das gemeinsam rechtfertigt freilich nicht, warum die britischen Konservativen in Corbyn eine Schreckensgestalt sehen. Sie treibt vielmehr um, was die Briten in puncto Außen- und Wirtschaftspolitik erwarten würde: Nicht nur die Israel-Frage wäre da ungeklärt, sondern auch das britische Verhältnis zu Russland. Nach dem Mord an dem russischen Ex-Agenten Sergej Skripal, bei dem die britischen Behörden eindeutige Beweise für eine russische Verwicklung hatten, meinte Corbyn lapidar: Die Anschuldigungen gegen Moskau seien "genauso wackelig" wie gegen Saddam Hussein im Jahr 2004. Und dass Corbyn eine Reichensteuer einführen will, kommt freilich in der Londoner City nicht gut an: Da wird davor gewarnt, dass man sich als Vermögender besser einen neuen Wohnsitz außerhalb Großbritanniens suchen sollte.

Bei vielen, die nicht über das große Geld verfügen, kommt die höchst professionell gemachte Kampagne Corbyns aber dennoch gut an. Seine Ideen der Rückverstaatlichung von Bahn, Wasserversorgung, Post oder Energieversorgung sorgen zwar bei Anlegern für Angstzustände, für Wähler ohne Aktiendepot wären sie aber durchaus wünschenswert – laut dem Umfrageinstitut YouGov sind mehr als die Hälfte der Befragten dafür.

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Wetten auf Boris 

Besondere Zustimmung finden Corbyns Ideen - erneut - bei der Jugend. Wäre nur sie am Wort, wäre der Einzug in die Downing Street für den 70-Jährigen eine ausgemachte Sache. Diesmal haben sich überdies so viele Junge zur Wahl registriert wie noch nie: 1,4 Millionen Menschen unter 25 Jahren sind es, die diesmal ihre Stimme abgeben wollen; 2017 waren es nur 900.000.

Es ist somit zwar nicht wahrscheinlich, aber immerhin denkbar, dass die Buchmacher im wettbegeisterten Großbritannien wieder falsch liegen. 2016 sagten sie voraus, dass die Briten gegen den Brexit stimmen werden. Diesmal legten sie sich auf Johnson als Wahlsieger fest.