Heute wählen die Briten: Die Fettnäpfchen von Johnson und Corbyn
Die Interviewerin auf Sky News war so verdattert, dass sie die Frage kopfschüttelnd noch einmal wiederholte. Was denn das „unartigste“ gewesen sei, das der Herr Premierminister je angestellt habe, wollte sie wissen: von einem Mann, dessen Skandalgeschichten den abgelaufenen Wahlkampf wie ein langer Schatten begleitet haben. Neue Details über Boris Johnsons ständige Seitensprünge wurden bekannt, uneheliche Kinder, zu denen er sich nie bekannt hatte, tauchten auf und nach fast jedem TV-Auftritt wies man ihm Lügen nach, die er aufgetischt hatte.
Der aber blieb hartnäckig dabei: Das einzige Vergehen, das ihm einfalle, sei, ein paar Mal mit dem Fahrrad auf dem Gehsteig gefahren zu sein.
Unwahrheiten mit Charme und einer ordentlichen Portion Frechheit aufzutischen, das war lange Johnsons Erfolgsgeheimnis. Doch die Masche funktionierte in diesem Wahlkampf zunehmend schlechter. In TV-Debatten musste er sich mehrfach selbst korrigieren.
Ob es sich nun um Zehntausende neue Krankenschwestern handelte, die demnächst den Dienst antreten würden, oder der Frachtverkehr zwischen England und Nordirland, der auch nach dem Brexit keine Kontrollen brauche: Johnsons Argumente hielten Nachfragen nicht stand. Zuletzt sagte der Premier sogar ein Interview mit dem bekannt kritischen BBC-Starjournalisten Andrew Neil ab, was ihm wieder negative Schlagzeilen einbrachte.
Selbst die unerschütterlich konservative Tageszeitung Telegraph urteilte kürzlich, wenn Boris Johnson mit dieser Kampagne eine Wahl gewinnen könne, dann nur weil der Gegner noch schlechter gewesen sei.
Corbyn findet keine klare Haltung
Tatsächlich hat Labour-Chef Jeremy Corbyn kaum ein Fettnäpfchen ausgelassen. Während Boris Johnson seinen Slogan „Wir kriegen den Brexit hin“ trommelte, gelang es dem EU-Skeptiker Corbyn bis zuletzt nicht, in der entscheidenden Brexit-Frage zu einer klaren Haltung zu finden. Man werde mit der EU neu verhandeln und danach die Briten noch einmal über den Austritt abstimmen lassen. Ein fauler Kompromiss, der Pro-Europäer und EU-Gegner enttäuschte.
„Sozialistisches Traumland“
Dem linientreuen Linken war es bei der letzten Wahl 2017 gelungen, vor allem junge urbane Wähler mit seiner Kapitalismus-Kritik zu begeistern. Diesmal aber scheint der Funke nicht überzuspringen. Zwar verspricht man soziale Wohltaten vom Gratis-Internet bis hin zu zweistelligen Pensionszuwächsen. Doch die wollen die Wähler nicht so recht glauben. Sogar der Labour-freundliche Guardian spöttelte über eine „sozialistisches Traumland“.
Dazu kamen Antisemitismus-Vorwürfe gegen Corbyn. Die waren anfangs zwar kaum mehr als eine Randnotiz wert, wuchsen sich aber rasch zum Skandal aus, weil der Labour-Chef es nicht schaffte, sich klar davon zu distanzieren. Ein paar klare Worte wären manchmal recht hilfreich gewesen, klagte ein Labour-Wahlkämpfer gegenüber dem KURIER: „Der Gegner drosch Einsatz-Parolen, und wir mussten unsere Haltung mühsam erklären.“