Wie Türkisch für mehr Gleichberechtigung sorgt
Von Naz Kücüktekin
Türkisch und Gleichberechtigung? Ich weiß, was sie jetzt denken: wie soll das zusammenpassen? Die Türkei glänzt meistens nicht gerade, wenn es darum geht, dass Männer und Frauen gleichbehandelt werden. Das Land hat eine erschreckend hohe Anzahl an Femiziden, Frauenrechtsorganisationen werden mit der Begründung der moralischen Gefährdung angeklagt und der Präsident des Landes, Recep Tayyip Erdogan, trat in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus der Istanbuler Konvention, einem völkerrechtlichen Übereinkommen über Frauenrechte, aus.
Dennoch hat die Türkei in puncto Gleichberechtigung manch anderen Ländern eines voraus: Die Sprache. Während im deutschsprachigen Raum die Debatte um das Gendern regelmäßig aufkommt, ist solch ein Diskurs in der Türkei in dieser Form gar nicht erst möglich.
Denn die türkische Sprache zählt zu den genuslosen Sprachen. Das heißt, Pronomen und auch die meisten Nomen sind geschlechtsneutral. Er oder sie gibt es in Türkisch nicht. Das o ist das einzige existierende Personalpronomen, mit dem er, sie oder es gemeint sein kann.
Wenn man in Türkisch etwa doktor (Arzt) sagt, könnte man nur anhand dessen nicht erkennen, ob es sich dabei um Mann oder Frau handelt. Das Geschlecht müsste man extra betonen. Für Ärztin kadin doktor (weiblicher Arzt) und für Arzt erkek doktor (männlicher Arzt) sagen. Zu den geschlechtsneutralen Sprachen zählen unter anderem auch Finnisch und Ungarisch.
Wieso das eine Rolle für die Gleichberechtigung spielt?
Wissenschaftlich herrscht Konsens darüber, dass die Sprache auch einen Einfluss darauf hat, wie wir denken und in späterer Folge auch handeln. Dass sich etwa mehr Frauen für Jobausschreibungen bewerben, wenn die Stelle auch explizit in der weiblichen Form angegeben ist. Und eben dieses Phänomen fällt weg, wenn eine die Sprache geschlechtsneutrales Denken ermöglicht. „Die Türkei ist jetzt nicht gleichberechtigter. Aber wenn man nur den sprachlichen Aspekt isoliert, zeigt sich schon ein Unterschied“, sagt Dr. Carolin Müller-Spitzer vom Leibnitz Institut für deutsche Sprache im Podcast Wissen Weekly.
Jedoch ist eine Sprache, nur weil sie an sich gendergerechtes Denken ermöglicht, nicht automatisch auch frei von Diskriminierungen. Das Wort adam zum Beispiel bedeutet auf Türkisch Mann und steht für positive Eigenschaften. Die Redewendung „Die Frau ist wie ein Mann“ (Adam gibi kadın) meint, dass sie je nach Kontext stark, geschickt oder ehrlich ist.
So lautet die Conclusio des wissenschaftlichen Artikels Genuslose Sprache - egalitäre Sprache? Folgendermaßen: „Eine genuslose Sprache könnte die geeignete Sprache für eine Gesellschaft sein, in der Gleichstellung bereits erreicht wurde und Geschlecht sozial nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Solange eine solche Gesellschaft aber noch nicht existiert, ist damit zu rechnen, dass auch genuslose Sprachen Ungleichheiten im sozialen Geschlechterverhältnis reflektieren“.