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"Ischgl steht im absoluten Feuer" - ORF-Doku im Corona-Brennpunkt

*Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends.*

Ed Moschitz wollte zunächst eine Doku über das Phänomen Ischgl machen, über den "immensen Aufwand", der hier betrieben wird, um ein Erlebnis anzubieten. „Hier dreht sich alles um Tourismus“ sagt er zu Beginn seines Films. Im Jänner, als er zu den Dreharbeiten angereist ist, habe sich kaum einer Gedanken über das Coronavirus gemacht.

„Am Schauplatz“-Präsentator Peter Resetarits wird eingeblendet, um die Entstehungsgeschichte der ORF-Doku zu erklären. Noch im Jänner hätten die befragten Ischgler Touristiker gern die Botschaft eines Imagewechsels vermittelt. Sie wollten nicht mehr als „Ballermann der Alpen“, sondern als klimaneutrales Skigebiet wahrgenommen werden.

Der Imagewechsel, der vor rund drei Wochen mit der österreichischen Corona-Krise seinen Ausgang genommen hat, könnte schlimmer nicht sein für das frühere Tiroler Bauerndorf, das zum Ziel von Millionen Touristen geworden ist.

Jetzt herrsche „die perfekte Krise im Dorf“, sagen die Ischgler nun. Und: „Wir leben ja vom Tourismus.“

"Seilbahn, Seilbahn, Seilbahn"

Plötzlich ist es "ein Geisterort", sagt Moschitz. Dort wo früher noch tausende Skifahrer auf die Silvretta-Seilbahn warteten, steht plötzlich niemand mehr.

Die Seilbahnen: Sie machten die Erschließung der Alpenhöhen und damit den Boom erst möglich. „Seilbahn, Seilbahn, Seilbahn“, sagt Hotelier Günther Aloys, darum habe sich, als er ein Kind war, beim Mittagessen immer alles gedreht. Sein Vater, Erwin Aloys, war Seilbahnpionier, er selbst wurde als umtriebiger wie kreativer Touristiker zum weißhaarigen „Schneekönig“ Ischgls, er war jahrelang im Tourismusverband aktiv.

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Nun, nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie, wurden die Seilbahnen für viele zum Sinnbild der Gier. „Man wollte auf jeden Fall so lang wie möglich hinauszögern, dass geschlossen wird“, sagt ein junger Mann via Skype. Nach dem Lockdown.

Wäre das Virus im Sommer in Europa ausgebrochen, hätte es andere Regionen getroffen, sagt Resetarits. Nun seien es eben Skiorte wie Ischgl und daher habe man beschlossen, hier genauer hinzuschauen, die geplante Doku nachzurecherchieren und umzuschneiden.

Der Anton aus der Slowakei und die Piefke-Saga

Zunächst sieht man das übliche Bild. Superlative. Bis zu 55 Tonnen Pommes würden pro Saison frittiert. „Die Pommes Frites, davon komma nicht weg“, sagt der serbischstämmige Küchenchef auf der Idalpe. Er zeigt den Anton – nicht aus Tirol, sondern aus der Slowakei. Anton paniert gerade Schnitzerl, "er ist schon im Tempo drinnen“. Auch die meisten anderen 200 Mitarbeiter der Ischgler Bergrestaurants kämen so wie Anton aus Osteuropa.

Ein anderer Koch - er dürfte aus Tirol stammen - sagt zum Thema Klimaneutralität: „Wer's glaubt, wird selig.“

Warum? „Die ganze Struktur hier“, sagt er, die Pistengeräte, der Energievebrauch insgesamt.

Ob er die „Piefke-Saga“ gesehen habe?

Hat er. „A bissl a Wahrheit is drin“, sagt er.

Moschitz spricht (noch im Jänner) mit Kleinbauern, die im Tal eine Pension betreiben. Ohne Tourismus könnten sie hier nicht bleiben, so die Botschaft. Die Landwirtschaft reiche höchstens zum Nebenerwerb.

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Pinguine und Schneekanonen

Dann kommt Aloys wieder zu Wort. Er, der Stars wie Paris Hilton als Testimonials gewann, wollte an der Skipiste auch Königspinguine ansiedeln. An einem der Speicherwasserteiche für die 1200 Schneekanonen.

Darin sieht er kaum ein Problem. Nur, wenn die Pinguine zum Beispiel einem Helikopter nachschauen und dann umfallen, dann brauche es jemanden, der ihnen beim Aufstehen hilft.

Passend zu den Küstenbewohnern, kommt ein Ökologe zu Wort, der das von Touristen auf den Skipisten hinterlassene Plastik dokumentiert. Ähnlich wie bei den Meeren, werde dieses von den Pistenraupen mit der Zeit zu Mikroplastik zermahlen und in der Almenlandschaft verteilt, sagt der Ökologe. 

Dann kommen unweigerlich Partybilder aus Ischgl, das zum "Synonym für Aprés-Ski in ganz Europa" geworden sei.

Ein deutscher Skifahrer sagt beim Warten auf die Seilbahn: "Wenn ich keinen Spaß mehr im Leben hab, dann muss ich mich zuhause einsperren."

„Niemand ahnte, dass dieses Vergnügen bald ein Ende haben wird“, sagt Moschitz

Wenige Wochen später sind viele in ganz Europa zuhause eingesperrt und versuchen dennoch, irgendwie Spaß am Leben zu haben.

Ausnahmezustand

Die ORF-Kameras dokumentieren die „unheimliche Ruhe“ die jetzt dort herrscht, wo sich vorher die Massen drängten: „Ischgl im Ausnahmezustand“. Für viele, die danach in Ischgl fest saßen, sei der Urlaub zum „Alptraum“ geworden.

 

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Ein Tourist, der noch am 11. März - zwei Tage vor der Schließung - angereist war, berichtet: „Im ganzen Gebiet ist Chaos ausgebrochen“. Es habe „keine Auskunft“ gegeben, „warum die Seilbahn nicht mehr geht.“

Wenig Auskunft bekam Dokumentarist Moschitz auch vonseiten des Ischgler Bürgermeisters Werner Kurz.

Dabei berichtet ein Tourist, dass der Bürgermeister ihm seine Handynummer geben habe, und gesagt habe, er könen sich jeden Tag bei ihm melden. Er habe „kein einziges Mal abgehoben.“

Später wird der Bürgermeister sagen, dass er 15 bis 16 Stunden Tag damit beschäftigt sei, Krisenmanagement zu betreiben.

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Unter den Tisch

Ein anderer Tourist zeigt sich überzeugt, in Ischgl habe man die Sache „untern Tisch kehren“ und noch „so viel wie möglich verdienen“ wollen. Bei den Leuten müsse „es auch einmal Klick machen“, sagt er, dass Gesundheit wichtiger sei.

Ein örtlicher Zahnarzt sagt: „Keiner hat damit gerechnet, dass das so schnell zu uns kommt.“

Er nennt das Beispiel der vielzitierten isländischen Touristen. Dass von den Tiroler Behörden angegeben wurde, diese hätten sich wohl erst im Flugzeug angesteckt, nennt er „blauäugig“. Als Mediziner müsse man davon ausgehen, „dass sich die beim Party machen angesteckt haben.“

Wenn die Menschen dicht an dicht stehen,so wie in den Aprés-Ski-Bars, dann finde das Coronavirus in so einem feuchten Milieu viel bessere Übertragungsbedingungen als an der frischen Luft, meint er.

 

Der Crash

Dann wieder der Blick zurück in den Jänner.

„Wenn keine Touristen mehr kemmen, gibt’s an Crash“ und das sei „schlecht für die Menschen“, sagt einer beim Bier in einer Runde von Seilbahnen-Mitarbeitern. Auch Wien habe viel vom Tourismus, alleine schon durch die Steuergelder aus dem Westen.

Noch einmal werden hochtrabende Zukunftspläne von „Schneekönig“ Aloys zitiert. Es gebe nur noch sieben Millionen Skifahrer in Europa, sagt er, früher seien es zwölf Millionen gewesen. Chinesen seien die neue Zielgruppe, bald gebe es dort 200 Millionen Skifahrer, die wollen trotz der neuen 800 aus dem Boden gestampften Skigebiete irgendwann auch woanders skifahren.

„Dann müssen wir in den Alpen parat sein“, sagt Aloys. Im Jänner habe er noch vorgeschlagen, man müsse jetzt einen Film über einen chinesischen Buben machen, der in Ischgl das Skifahren lernt.

Daraus wird wohl zunächst nichts.

Nur mehr der Barkeeper im Hotel

Zurück ins Quarantänegebiet. Der junge Tourist von vorher sagt, als er von der Skipiste zurück ins Hotel wollte, sei „kein Mensch mehr im Hotel“ gewesen, „alle Angestellten weg“ Nur der Barkeeper war noch da, mit dem habe er sich „ganz gut arrangiert“.

Während eingesperrte Touristen und Küchenpersonal Moschitz noch bereitwillig berichten, herrscht von Ischgler Seite Funkstille. Nicht einmal der sonst so auskunftsfreudige Günther Aloys will etwas sagen. Er habe mit dem Bürgermeister gesprochen, alles soll nur noch „über eine Stelle“ laufen, er könne ihm nicht in den Rücken fallen mit „eigenständigen Sachen“.

Und dann sagt Aloys noch in dem (nachgesprochenen) Gespräch: „Ischgl steht im absoluten Feuer, da muss man vorsichtig sein. Dankeschön.“

Eine Tschechin, die in einem Bergrestaurant der Seilbahnen gearbeitet hat, spricht dafür Klartext. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert. Dass sie nach dem Auftreten von Fieber ins Krankenhaus Landeck gefahren sei, habe ihr Probleme eingebracht.

Sie habe dann noch, wie immer, Gläser und Besteck polieren müssen und den Gästen das Essen gebracht. Theoretisch habe sie noch Kontakt mit fast hundert Menschen pro Tag gehabt, muss ihr Chef zugeben.

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Das "berühmte Lokal"

Ein Ischgler Arzt kommt zu Wort. Von den insgesamt 3000 Beschäftigten im Tourismus seien noch 800 bis 1000 während der Quarantäne im Ort geblieben, berichtet er. Er habe dann noch „einen Haufen“ an Leuten untersucht. Neben den Einheimischen noch 100 bis 200 Leute, sagt er.

Ein deutscher Tourist erzählt, dass die Untersuchungen von recht einfacher Natur gewesen seien. Ein Fieberthermometer sei ins Ohr gesteckt worden, danach habe er eine Art Unbedenklichkeitszeugnis bekommen, um den Ort verlassen zu können: Mit der Bestätigung, er habe „keinerlei Kontakt mit Covid-getesteten Personen“ gehabt.

Der Arzt selbst meint, er könne sich nicht vorstellen, so etwas bestätigt zu haben, und wenn, dann könne er nur das glauben, was ihm die Patienten sagen.

Offenbar die einzige Evidenzbasis dafür: Ob die Leute (er spricht von zwei, drei Patienten) in dem „berühmten Lokal“ gewesen seien. Von den anderen Lokalen sei zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt gewesen.

Verbraucherschützer Peter Kolba berichtet von bereits mehr als 3.300 Menschen, die sich einer Sammelklage anschließen würden. Er geht von einem geforderten Schadenersatz von insgesamt mehr als fünf Millionen Euro aus und somit von einer Zuständigkeit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft.

"Nichts ist schiefgegangen"

Moschitz bekommt dann doch noch Bürgermeister Kurz ans Skype-Mikrofon. Er könne versichern: „Nichts ist schiefgegangen. Wir haben uns immer nach bestem Wissen und Gewissen an die Vorgaben der Behörden gehalten.“

Das erinnert stark an die berühmt gewordene Verteidigungslinie des Tiroler Gesundheitslandesrats Bernhard Tilg.

Übrig bleiben nicht zuletzt auch Mitarbeiter wie jene Tschechin, die wie andere Kollegen der quälende Gedanke umtreibt, wie viele Menschen man wohl noch bei der Arbeit infiziert habe.

Ob sie noch einmal für Ischgl arbeiten wolle?

„Nee, nee, nee, ich habe genug.“

 

LINK: ORF-Doku "Ausnahmezustand in Ischgl" zum Nachschauen

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