Barbara Kaufmann: Gegen das Schweigen
Von Barbara Kaufmann
Schweigen ist grausam. Wenn Mutter und Vater mit dem Kind nicht sprechen, wenn es keine Vorhaltungen gibt, keinen Streit, keinerlei Auseinandersetzung, stattdessen nur Stille, bleibt das Kind sich selbst überlassen. Dem Lärm der eigenen Gedanken, der Einsamkeit der Isolation von den anderen, der Hilflosigkeit dem Unausgesprochenen gegenüber. Schweigen ist eine brutale Strafe, unmenschlich, ein Folterinstrument aus dem Werkzeugkasten der schwarzen Pädagogik.
Nicht eingebunden zu werden in den Dialog, keine Ansprache zu haben, keine Antworten zu erhalten, ist elend. Es ist, als wäre man nicht da. Als würde man gar nicht existieren, die schlimmste Form des Liebesentzugs. Schweigen ist bedrohlich, denn Stille ist mächtig. Stillschweigen zu halten über Unhaltbares, über Vorgänge, die anderen die Würde nehmen, die unmenschlich sind, ist Mittäterschaft. Oftmals erzwungen, aus dem Zwang geboren, den jene ausüben, denen das Schweigen nützt.
Und trotzdem gilt auch hier, wer schweigt, stimmt zu. Wie lang wurde geschwiegen über Gewalt, über Untaten, die Menschen anderen zufügten, immer im Schutzmantel des Schweigens? Wie viel Mut Einzelner hat es gebraucht, um dieses Schweigen zu brechen? Um dagegen aufzustehen, es anzuprangern, auch auf die Gefahr hin, ausgeschlossen zu werden, isoliert, degradiert von der Mehrheit? Wie viel Kraft, um durchzuhalten, die Anfeindungen zu überstehen, die Beschimpfungen, die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft?
Wie viel Courage, um trotzdem weiterzukämpfen? Dem Gegenwind standzuhalten, auch wenn man ganz allein da steht? Weiter anzureden gegen das Schweigen zu Missbrauch, Unterdrückung und Gewalt?
Schweigen ist ignorant. Wer schweigt, klinkt sich aus der Gesellschaft aus. Ein Rückzug in die eigenen vier Wände, in eine Scheinsicherheit, in der man meint, dass alles bleibt, wie es ist, wenn man nur nicht darüber spricht, dass es draußen längst anders geworden ist. Härter, kälter, unmenschlicher.
Wer schweigt, verschließt sich vor den Zuständen und verspottet jene, die noch den Mut haben, sie zu benennen. Er hat sich arrangiert, es sich gut eingerichtet in der Stille, umgeben von wortloser Zustimmung, von stummen Profiteuren, die Zweifel abtun, Feigheit als Notwendigkeit verkaufen, Teilnahmslosigkeit als Vernunft. Vielleicht meint er im Innersten, dass seine Stimme ohnehin nicht zählt. Dass er nichts ändern kann. Dass es so besser ist. Und merkt erst viel zu spät: das ist es nicht.
Wer schweigt, kapituliert vor der Wirklichkeit, statt zu versuchen, sie zu gestalten. Er verzichtet auf sein Recht, sich zu äußern, verstummt in vorauseilendem Gehorsam, trägt dazu bei, dass die Stille sich ausbreitet. Dass Schweigen zum Gesetz wird, Wegsehen zur Pflicht, die Ruhe zur Todesstille.
Wer schweigt, verzagt vor dem Lärm der Pöbler, vor dem Grölen und Brüllen von jenen, die alles zunichte machen wollen, was uns verbindet. Die Hetze, Hass und Lügen verbreiten, um die Gemeinschaft zu zerstören. Die Menschenrechte plötzlich zur Debatte stellen, ein Pro und Contra, als würden wir das Contra überleben.
Wer schweigt, verrät auch jene, für die er sprechen könnte.
Wer schweigt, verrät am Schluss sich selbst.