Pirelli-Kalender für Architekten
In Mailand schlägt die Sache schon seit Monaten medial hohe Wellen! Das von den Mailändern liebevoll „Pirellino“ genannte Bürogebäude aus den 1950er-Jahren wird nun endlich renoviert. Nachdem es sehr zum Missfallen der Bevölkerung nun einige Jahre brach gelegen ist, hatte man sich dazu entschlossen, einen Architektur-Wettbewerb auszuloben.
Aus Pirellino wird Pirelli 39
Dieser ist nun entschieden und somit klar: Aus Pirellino wird Pirelli 39. Das liegt freilich daran, dass die offizielle Adresse des zukünftigen Vorzeigeturms Via Pirelli 39 lautet.
Kurz also zu den Rahmenbedingungen: Nach einem mehr als einjährigen Auswahlverfahren hat sich die Stadt Mailand aus 70 Einreichungen von insgesamt 359 Studios aus 15 Ländern für das Konzept der beiden Architekturbüros Diller Scofidio + Renfro sowie Stefano Boeri Architetti entschieden. Und damit für ein gewiss spektakuläres Konzept. Vor allem aber für einen Vorschlag, der voll und ganz auf die Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit einzahlt.
Das Unterfangen gilt tatsächlich als das erste italienische Sanierungsprojekt, das sich an den ESG-Zielen (Umwelt-, Sozial- und Governance-Praktiken) orientiert. Das wird von den Lokalpolitikern auch sehr bewusst unterstrichen. Stellt sich natürlich sogleich eine Frage: Was genau bedeutet das?
Ein Wald an der Wand
Das gesamte Bauvorhaben besteht aus zwei durch eine Brücke miteinander verbundenen Objekten. Die beziehen zumindest teilweise die bereits bestehende Struktur von „Pirellino“ ein. Diese Integration alter Bausubstanz gilt als wesentlicher Aspekt, um den CO2-Fußabdruck des Baus gering zu halten.
Doch wirklich visionär ist die Art und Weise, mit der die 1.700 Quadratmeter des Büro-Wohnturm begrünt werden sollen. Auf den 25 Stockwerken, die 110 Meter in den Himmel ragen werden, soll ein 10.000 Quadratmeter großer Wald erwachsen.
Von Bosco Vertikale gelernt
Dieser wird sich in seiner räumlichen Ausprägung am Stefano Boeris Konzept des „Bosco Verticale“, das ebenfalls in Mailand steht, orientieren. Doch ist die Idee inzwischen weitergereift und die insgesamt 13.000 Pflanzen und Bäumen sollen nicht wahllos in den Himmel wachsen. Ein bestimmtes Schema soll wahrlich augenöffnend sein.
„Ziel ist es, die Flora so gedeihen zu lassen, dass sie stets eine der Jahreszeit entsprechende Farbe annimmt“, so die Architekten. Sprich: Im Frühling wird Pirelli 39 zart ergrünen. Im Sommer bunt erblühen. Und im Herbst sanft Richtung Winter verblassen. Und, nein, die Namensgleichheit mit dem weltberühmten Pirelli-Kalender ist bloßer Zufall. Wirklich!
Dieser, auf den ersten Blick rein optische Effekt, hat allerdings auch richtig sinnvolle Auswirkungen. Auf diese Weise kann der vertikale Wald so gedeihen, dass wenig gärtnerische Betreuung notwendig ist. Und das wiederum führt dazu, dass die Menge des absorbierten CO2 über das Jahr verteilt nahezu ident bleibt. In Summe wird das Pirelli 39 also jährlich nicht nur 14 Tonnen CO2 binden, sondern zudem neun Tonnen Sauerstoff pro Jahr produzieren! Ein Zahlenspiel, das von den Machern stolz nach außen getragen wird.
Wieviel sind 14 Tonnen CO2 wirklich?
Doch was auf den ersten Blick nach richtig viel klingt, muss man schon auch in Relation setzen: Ein Mensch benötigt pro Jahr 3,27 Tonnen Sauerstoff, es könnten als ziemlich genau drei Menschen von dem Megabau „beatmet“ werden.
Und: Ein Mensch produziert pro Jahr ziemlich genau 9,2 Tonnen CO2. Die Menge die von Pirelli 30 absorbiert wird, egalisiert also ungefähr so viel CO2 wie 1,5 Personen in die Luft setzen. Aber jetzt muss man natürlich schon auch sagen: Besser als nix und wenn jeder Bau so gedacht würde, hätte das dann schon auch wieder etwas mehr Impact.
Pirelli 39 punktet mit Solar-Paneelen
Zudem darf man nicht vergessen, dass rund um diesen Hochhaus-Wald noch weitere Maßnahmen die nachhaltige Idee von Pirelli 39 untermauern: 65 % des Energiebedarfs können in Zukunft mittels 2.770 Quadratmeter Photovoltaik-Paneele selbst produziert werden. Und durch den Einsatz von so genanntem Konstruktionsholz wurde der Kohlenstoff-Fußabdruck des Gebäudes weiter reduziert.
Das Projekt kombiniert die adaptive Wiederverwendung historischer Gebäude mit umweltverträglichem Neubau der lebendige Elemente integriert.
Darauf ist Elizabeth Diller, Partnerin bei Diller Scofidio + Renfro besonders stolz: "Da sich ein Großteil unserer Arbeit auf die Zukunft der Städte konzentriert, stellt das Projekt Pirelli 39 eine großartige Gelegenheit dar, ein neues Modell der gemischten Nutzung und des nachhaltigen städtischen Wachstums zu entwickeln“, sagt sie. „Das Projekt kombiniert die adaptive Wiederverwendung historischer Gebäude mit umweltverträglichem Neubau der lebendige Elemente integriert."
Stefano Boeri fügt hinzu: "In einer so schwierigen Zeit zeigt dieses Projekt die Vision eines zukunftsorientierten Mailands. Es stellt sich mutig den großen Herausforderungen der Klimakrise."
Um diesen Bogen zwischen altem Denken und zukunftsweisender Vision auch architektonisch zu dokumentieren, haben sich die Architekten für die Verbindungsbrücke zwischen den beiden Bauwerken eine Art Statement-Nutzung ausgedacht: Sie wird nicht bloß als Drehscheibe für Veranstaltungen, Aufführungen und Ausstellungen genutzt werden.
Diese Brücke wird zudem ein Gewächshaus beherbergen, das mit Workshops zum Thema Nachhaltigkeit und moderne Bauweisen auch eine Art Wissenstransfer möglich machen soll. Ein Brücke in die Zukunft also.
Text: Johannes Stühlinger Bilder: Diller Scofidio + Renfro
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