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Der Traum vom weltgrößten Holzbau

Es wäre wohl eines der aufregendsten Gebäude der kommenden Jahre geworden. Doch die Jury des Wettbewerbs für den neuen Gazprom Neft Hauptsitz in St. Petersburg entschied dagegen: Der vom niederländischen Büro MVRDV vorgeschlagene klimaneutrale Komplex wird nicht realisiert. Der Entwurf wurde im Finale auf Platz zwei verwiesen. Platz eins ging ans Konzept des japanischen Studios Nikken Sekkei, das nun das Großprojekt für den russischen Mineralöl-Konzern ausführen soll. Spannend bleibt MVRVDs visionärer Plan jedoch allemal. Nicht nur, weil man damit den derzeit weltgrößten Holzbau geschaffen hätte.

Credo versus Kundenwunsch

„Es ist schwer, Kunden zu überzeugen“, berichtet MVRDV-Mitgründer Winy Maas in einem Dezeen-Interview zum Thema Nachhaltigkeit und Architektur. Die Entscheidung, am Wettbewerb für das Gazprom Neft Gebäude teilzunehmen, sei nicht leichtgefallen: „Nach vielen Diskussionen, ob MVRDV mit einem der der drei größten Produzenten globaler Kohlenstoffemissionen zusammenarbeiten sollte, beschlossen wir, unser Engagement für nachhaltiges Design aufrechtzuerhalten.“ Bewusst gesetztes Ziel des „Timber Office“ genannten Entwurfs war es, die Schadstoffbelastung St. Petersburgs zu senken.

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Den weltgrößten Holzbau zu realisieren, hätte perfekt zum Credo der niederländischen Architekten gepasst. Schließlich plädiert Maas seit Jahren mit Leidenschaft dafür, viel Grün in die Städte zu holen und nachhaltig zu bauen. Doch ohne Bauherren, die offen für umweltfreundliche Konzepte sind, sei man dabei oft auf verlorenem Posten.

Architekten im Kreuzfeuer der Kritik

Dass MVRDV am aktuellen Wettbewerb teilnahm, sorgte für Kritik. Dass Architekten, die „grüne“ Ideen propagieren, ins Kreuzfeuer geraten, wenn sie Projekte angehen, die an diesem Vorsatz zweifeln lassen, ist allerdings kaum überraschend. Im Fall des Auftrags für den russischen Ölkonzern könnte Nikken Sekkei ähnliches beschieden sein. Immerhin jubelte das Studio jüngst über einen MIPIM „Future Projects“-Award 2020 in der Kategorie „Nachhaltigkeit“ für sein „W350 Plan“ in Tokio.

Holzbau-Entwurf als grünes Exempel

Doch jetzt zurück zum faszinierenden „Timber Office“. Obwohl der Traum vom weltgrößten Holzbau nun doch nicht in Erfüllung geht: Es lohnt sich, das ambitionierte Konzept der renommierten niederländischen Architekten näher zu betrachten. Schon deshalb, weil es das „Green Shift“-Ideal des MVRDV-Teams deutlich macht.

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Der Entwurf des klimaneutralen Gebäudes zelebriert die Landschaft am Okhta-Kap und ihr historisches Erbe. Über die Jahre beherbergte das bewaldete Marschland erst Festungen, dann Baumschulen, Werften und Fabriken, ehe es verwaiste. Als Standort des Gazprom Neft Bürokomplexes ausgewählt, hätte es nach MVRDV-Entwurf zwei neue „Waldebenen“ bekommen: Eine öffentliche und eine gewerbliche. Denn das Konzept sieht ein 28 Meter hohes Gebäude vor, das auf einem „Wald“ aus 119 Holzsäulen ruht.

„Waldboden“ und „Baum-Dach“

Der öffentliche „Waldboden“ mit Park und Plaza wurde im Erdgeschoss geplant, die Büroräume oben im „Baum-Dach“ der Säulen. Eine Dachlandschaft mit einheimischer Vegetation sollte den Komplex krönen und – wie auch der Park – der biologischen Vielfalt des Kaps dienen.

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Ihrem Ziel, nur nachhaltige Gebäude zu designen, wollten die Architekten auch beim Projekt für gewichtigen Emissionsproduzenten entsprechen. Sie designten also ein Gebäude, das Kohlenstoff bindet und keine Energie aus fossilen Brennstoffen verbraucht. Der Entwurf respektiert Sankt Petersburgs Geschichte und verbindet zugleich das Okhta-Kap mit dem natürlichen Ökosystem des Flussufers. Und er berücksichtigt die Grundsätze der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Von lokalen Traditionen inspiriert

Die Struktur des Gebäudes wurde von traditionellen St. Petersburger Innenhofblöcken inspiriert. Einzelne Bürogebäude sind durch eine Mittelachse verbunden, die an Wassily Kandinskys russischen Avantgarde-Stil erinnert. Das Konzept bietet die Möglichkeit, die Blöcke bei Bedarf in unabhängige Einheiten zu verwandeln.

Oben Arbeit, unten Park

Die räumliche Organisation der hellen, luftigen Arbeitsbereiche im Komplex folgt modernen Vorgaben zur Förderung sozialer Interaktion. Weil der Bürobereich auf Säulen „schwebt“, zieht er ein schützendes Dach über den öffentlichen Park und Platz. Als Besucherattraktionen des weltgrößten Holzbaus waren ein Museum, ein Gesundheits-, ein Logistik- und ein Konferenzzentrum vorgesehen.

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Die frei zugänglichen Zonen sollten das Areal mit der Stadt verbinden – unterm eleganten „Baldachin“ des klimaneutralen Hauptgebäudes eines Unternehmens, das sonst fürs krasse Gegenteil nachhaltiger Wirtschaft steht. Zudem wurde ein Wegesystem durchs Grün geplant, das Besuchern erholsamen Zugang zur lokalen Flora und Fauna bietet. Und zwar bei grandiosem Blick über den Newa-Fluss und mit einer Solarpergola, die Energie liefert.

„Smart“ genützte Sonnenkraft

Mit der Dachebene konzipierte das Büro MVRDV ein essenzielles Element seiner Umweltstrategie. Solarpaneele erstrecken sich über Pergola und Fassade. Ein „smartes“ System folgt dem Lichteinfall, um die Kraft der Sonne bestmöglich zu nützen. Bei der Bepflanzung setzt das Design auf Xeriscaping, das den Bewässerungsbedarf stark reduziert.

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Tief unter dem „schwebenden“ Holzbau würdigt der Entwurf geschützte archäologische Stätten durch einen höhlenartigen Gang. Auch an sichere Parkplätze und bequemen Zugang zum Erdgeschoss wurde gedacht.

Im Dienste des Ökosystems

Die Strategie für die 155.000 Quadratmeter Fläche umfassende Anlage war darauf ausgerichtet, moderne Arbeitsplätze und einen attraktiven Treffpunkt zu schaffen. Zugleich sollte MVRDVs „Timber Office“ jedoch das Ökosystem der Newa neu beleben und ein Exempel für nachhaltige Architektur schaffen.

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Dass es mit dem weltgrößten Holzbau nun nichts wird, schmerzt nicht nur seine Planer. Wer umweltbewusste Architektur schätzt, hätte wohl seine Freude daran gehabt.

Ich denke, es wäre gut, unseren Planeten in Grün zu tauchen

Winy Maas, Architekt und MVRDV-Gründungspartner
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„Ich denke, es wäre gut, unseren Planeten in Grün zu tauchen“, meint Architekt Winy Maas. Und die Zahl jener, die diese Ansicht teilen, wächst. So bastelt man inFrankreich an einem Gesetz für öffentliche Neubauten: Ab 2022 sollen sie zu mindestens 50 Prozent aus Naturmaterial bestehen müssen. Und dies ist längst nicht alles.

Holzbau im Aufwind

In Sydney lässt Software-Riese Atlassian ein 40 Stockwerke hohes Holzhaus errichten. International gerühmte Büros wie Henning Larsen, Zaha Hadid oder Dorte Mandrup setzen zusehends auf den nachwachsenden Rohstoff. Außerdem wissen renommierte Architekten wie Martin Aichholzer Vorurteile gegen den Baustoff Holz anhand von Fakten zu entkräften.

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Ein Ziel, das auch das Studio Marco Vermeulen mit seinem „Biobasecamp“ bei der Dutch Design Week 2019 verfolgte: Der interessante Pavillon diente dazu, die vielfältigen Möglichkeiten des „Betons der Zukunft“ zu demonstrieren. Ein im Vergleich zum weltgrößten Holzbau zwar winziges Paradebeispiel – aber immerhin ein weiteres, das Maas‘ Überzeugung bestätigt.

Umdenken findet statt

Auch wenn Gazprom Neft sich jetzt gegen MVRDVs klimaneutrales Konzept entschied: Umdenken findet statt. Nicht umsonst verkündet Europas größter Ölkonzern Shell, sich künftig verstärkt um erneuerbare Energiequellen zu bemühen. „Ich möchte ein Unternehmen, das weniger vom Öl abhängig ist“, zitiert Industriemagazin.at Konzernchef Ben van Beurden.

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Und der Shell-CEO nannte etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ auch den Grund: „Wir sehen, dass sich das Energiesystem wandelt. Und wenn die Gesellschaft andere Energieprodukte will als bisher, dann müssen wir als Unternehmen uns umstellen“. Vielleicht bekommt die vom Klimawandel bedrohte Welt also doch bald mehr Bauherren, die auf Nachhaltigkeit setzen.Auch solche, von denen jetzt noch kaum jemand derlei erwarten würde.

Text: Elisabeth SchneyderBilder: MVRDV, MIR

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